Wer lehrt, hat auch einmal studiert (Teil 8)

"Politisch interessiert und aktiv" – Politologe Ulrich Brand erzählt zu Semsterbeginn aus seiner eigenen Studienzeit. Wie z.B. von einem Auslandsaufenthalt in der DDR und dem Studium als kollektive Erfahrung und Infragestellen von Autoritäten.

uni:view: Erinnern Sie sich zurück: Was haben Sie damals an Ihrem ersten Tag auf der Universität (Studium Politikwissenschaft) erlebt?
Ulrich Brand: Ich fuhr Anfang Oktober 1989 in Frankfurt/Main (Deutschland) an den berühmten Uni-Turm und holte mir das kommentierte Vorlesungsverzeichnis der Sozialwissenschaften – digital gab's ja damals noch nicht, Voranmeldung auch nicht, STEOP ebenso nicht. Dann ging ich in ein Café und arbeitete das Programm durch. Das war unglaublich aufregend. Am Ende wollte ich wohl in 20 Veranstaltungen: Politikwissenschaft, Soziologie, Sozialpsychologie, Volkswirtschaftslehre. Es öffnete sich eine neue Welt, was sich im Studium dann bestätigte. Eine andere Erinnerung: Da ich zuvor bereits drei Jahre eine Hotelfachausbildung kombiniert mit einem – verschulten – Betriebswirtschaftsstudium an der Berufsakademie Ravensburg gemacht hatte, fühlte ich mich mit meinen 22 Jahren ziemlich alt. Wirklich. Aber auch nicht abgeschreckt von dem Großbetrieb.



Ulrich Brand Anfang der 90er Jahre beim Verfassen einer Seminararbeit über den "18. Brumaire" von Karl Marx. (Foto: privat)



uni:view: Welches Motto hat Sie während Ihres Studiums begleitet?

Brand:
Da ich aus einer eher bildungsfernen Familie komme, war mein Studium für mich harte Arbeit, sehr beglückend, aber auch anstrengend. Das mit meinem eigenen Erkenntnisinteresse zu verbinden, war zentral. Da ich immer politisch interessiert und aktiv war, ergaben sich viele Interessen aus gesellschaftlichen Problemen wie ökologische Krise, Globalisierung, neoliberale Politik, später Lateinamerika. Das Sommersemester 1990 verbrachte ich mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Humboldt-Universität in Berlin. Politikwissenschaft gab es damals noch gar nicht, aber eine Welt im Umbruch. Wir waren sieben Studierende aus Frankfurt/Main, wohnten im Gästehaus der Uni in Pankow, es gab noch die Ost-Mark. Wenn das keine Motivation war, Gesellschaft, Politik und deren Veränderungen, die ganzen Macht- und Herrschaftsaspekte genauer zu verstehen. Folgerichtig ging ich dann 1992 für ein Jahr nach Buenos Aires; Lateinamerika war damals das brutale Labor des Neoliberalismus.

Studium war für mich lange keine Ausbildung für einen akademischen Beruf, sondern Verstehen von Welt, Aneignung von Wissen, von entsprechendem Handwerkszeug. Es war immer auch die Neugierde, bei Diskussionen, Lektüre und eigenen Denkbewegungen Unbekanntes zu entdecken. Die Rede von der "wertfreien" Wissenschaft war mir immer suspekt. Das Motto war also in etwa: Studiere, um vielfältige Kompetenzen entlang Deiner Interessen zu erwerben und fixiere Dich nicht auf einen vermeintlichen Karriereplan.

uni:view: Was vermissen Sie am meisten an Ihrer Studienzeit?
Brand:
Zum einen die Freiheit, breitgefächert lesen zu können, mich auch mal eine Woche mit einem Thema zu befassen, aus dem ich keinen "Output" generiere. Und zum anderen eine wesentlich höhere Verfügung über die eigene Zeit. Die manageriellen Anforderungen haben durch die Tätigkeit als Professor schon sehr zugenommen.
 
uni:view: Welche Tipps geben Sie Ihren Studierenden mit auf den Weg?
Brand:
Zunächst: Studium heißt ein gutes und breites Studienangebot; das haben wir in Wien glücklicherweise. Dann individuell hoffentlich gute oder zumindest erträgliche Studienbedingungen – materiell abgesichert oder zumindest mit ausreichend Räumen trotz Lohnarbeit und/oder anderer Verpflichtungen. Ich hatte das große Glück, Studium und Promotion mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert zu bekommen.

Neben diesen Bedingungen, die ja wichtig sind im Studium, möchte ich als Tipp geben: Nehmen Sie das Studienangebot engagiert an. Gehen Sie aber eigenen Interessen nach, lesen Sie auch andere Sachen, nutzen Sie die Wahlfächer, gehen Sie zu öffentlichen Veranstaltungen, stellen Sie Autoritäten – gerade ProfessorInnen – begründet infrage. Erhalten Sie sich Neugierde, die Lust am Lesen, Denken, Diskutieren, Argumentieren.

Und, das war für mich eine wichtige Erfahrung: Bilden Sie Arbeitsgruppen, schließen Sie sich zusammen und studieren gemeinsam. Studium ist auch etwas Kollektives, ist eine Lebenserfahrung, für deren Gestaltung Sie auch selbstverantwortlich sind. Und: Das sage ich als Professor für Internationale Politik, aber auch ob der verbreiteten Selbstgenügsamkeit und Selbstbeschäftigung der wohlhabenden Gesellschaften: Gehen Sie für ein oder zwei Semester ins Ausland, am besten in ein Land des globalen Südens. Das verändert Ihre Welthaltung, Ihr Denken, das schafft oft lebenslange Kontakte. (red)


Ulrich Brand (1967) diplomierte zunächst in Betriebswirtschaft, ab 1989 studierte er Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und promovierte dort 2000. Er arbeitete ab 2001 als Universitätsassistent an der Universität Kassel, wo er sich 2006 habilitierte. Seit 2007 ist er Professor für Internationale Politik an der Universität Wien. Neben seinem Studium an der Universidad de Buenos Aires war er seit Mitte der 1990er Jahre immer wieder an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, 2003 im Rahmen der Habilitation an der York University in Toronto und 2005 an der Rutgers University in New Jersey.