Universitäre Bildungspraxis im digitalen Wandel

Wie sieht die digitale Gegenwart und Zukunft universitärer Bildung aus? Passend zur aktuellen Semesterfrage sprach Gerhard Krexner von der Fakultät für Physik mit Philosoph Herbert Hrachovec und Physiker Paul Wagner über Vorlesungsmitschnitte in der Vortragspraxis.

Gerhard Krexner: Die Digitalisierung ist auch im universitären Alltag sichtbar, zum Beispiel, wenn Vorlesungen mit der Kamera aufgezeichnet und gestreamt werden. Wie sehen Sie als Vortragende diese Entwicklung?
Paul Wagner: Als im Jahr 2011 erstmals an mich herangetragen wurde, meine Vorlesung "Einführung in die Physik I, II" auf Video aufzuzeichnen, fand ich die Idee hervorragend. Damit ist meine Vorlesung den Studierenden auch in Zukunft zugänglich. Zusammen mit dem zugehörigen Buch liegt damit eine geschlossene Dokumentation vor. Wie die Statistik der Aufrufe auf YouTube zeigt, ist das Interesse nicht nur in Österreich, sondern im gesamten deutschen Sprachraum groß. Das hat mich überrascht. Das Feedback von zahlreichen Studierenden zeigt, dass die Video-Aufzeichnung gut angenommen und zum Teil intensiv genutzt wird.

Herbert Hrachovec: Ich hatte zur Archivierung der Serie "Philosophische Brocken" auf Radio Orange eine Website installiert, die sich gut zur Dokumentation von Vorlesungen nutzen ließ. Ein technischer und ein inhaltlicher Beweggrund kamen dabei zusammen. Einerseits ein informatisches "Because we can" und andererseits tatsächlich die Erwartung, dass der Sinn dieses Angebotes unmittelbar einleuchtet. Wenn ich sehe, wie populär etwa der Podcast der gegenwärtigen Vorlesung des Kollegen Gerhard Donhauser ist, war das keine falsche Einschätzung.

Veranstaltungstipp: Diskussion "Universitäre Bildungspraxis im digitalen Wandel"
Erfahren Sie mehr über die Herausforderung digitaler Lehrmittel und das erfolgreiche Pilotprojekt der Physik-Vorlesungen auf YouTube in einer Diskussionsrunde mit Impulsvorträgen von Herbert Hrachovec, Paul Wagner und Gerhard Krexner. Organisiert wird die Veranstaltung von der Fakultät für Physik im Rahmen der Semesterfrage der Universität Wien: Wie leben wir in der digitalen Zukunft?
Mittwoch, 25. Jänner 2017, 17 Uhr
Lise-Meitner Hörsaal der Fakultät für Physik
Strudlhofgasse 4, 1090 Wien
Weitere Informationen (PDF)

Krexner: Denken Sie, dass Audio-Aufnahmen aus der Sicht der Studierenden gleich wertvoll sind wie Video-Aufnahmen von Lehrveranstaltungen?
Hrachovec: Diese Frage hat sich bald gestellt und mit interessierten Studierenden haben wir eine Kamera im Hörsaal platziert und den Vortrag simultan im Internet gestreamt – lange bevor diese Praxis allgemeiner bekannt wurde. Vermutlich war der Erfolg – wir hatten ja die Logfiles – auch deshalb gering. Wir hätten die Videos zum Download anbieten können. Meine Überzeugung war jedoch, dass es sich dabei mehr um technische Selbstbeweihräucherung als um eine ernsthafte pädagogische Verbesserung handelt. Zur Vorlesung bereitgestellte visuelle Hilfsmittel erfüllen den Zweck mindestens genauso so gut. Ich leugne nicht, dass sich die Erwartungen heutzutage verändert haben und finde Vorlesungsvideos selbst bisweilen instruktiv. Dennoch überwiegt nach wie vor die Skepsis. Es beginnt damit, dass man von HochschullehrerInnen nicht verlangen kann, eine Bühnenpersönlichkeit zu sein.

Wagner: Im Bereich der Physik ist die Situation grundsätzlich etwas anders. Die Darstellung physikalischer Inhalte erfolgt zumeist in mathematischer Sprache an der Tafel, unterstützt durch Skizzen und Diagramme. Ebenso bilden Experimente einen zentralen Inhalt der Vorlesungen. Beides wäre im Rahmen einer reinen Audio-Aufzeichnung nicht vermittelbar.

Krexner: In einführenden Physik-Vorlesungen spielen Demonstrationsexperimente eine wichtige Rolle. Wie groß war der sich aus der Videoverfilmung ergebende Mehraufwand in der Vorbereitung der Vorlesung?
Wagner: In der Vorbereitung der Vorlesung ergab sich auf Grund der Videoverfilmung ein nur geringfügiger Mehraufwand. Die Video-Aufzeichnung der Vorlesungs-Experimente erforderte allerdings gelegentlich eine Wiederholung der Experimente zu einem späteren Zeitpunkt, um eine detaillierte Video-Dokumentation zu ermöglichen.

Krexner: Welche Rolle könnten, Ihrer Meinung nach, diese Video-Aufzeichnungen im Rahmen der Lehrplanung für kommende Jahre bzw. Generationen von Studierenden spielen?
Wagner: Vorlesungen können/sollten meiner Meinung nach nicht vollständig durch Video-Aufzeichnungen ersetzt werden. Diese können jedoch als zusammenhängende Basisinformationen dienen. Davon ausgehend könnten in einer Vorlesung mehrere Stoffgebiete erläutert und diskutiert werden. Es bliebe dann auch mehr Zeit für Übungen und begleitende Praktikums-Experimente. Wenn ich an mein eigenes Studium zurückdenke, finde ich es sehr bedauerlich, dass solche Aufzeichnungen noch nicht verfügbar waren. Oftmals hätte ich wohl offen gebliebene Fragen durch Verwendung der Video-Mitschnitte klären können, einzelne versäumte Vorlesungen hätte ich bequem nachgeholt.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage

Krexner: Durch die Digitalisierung kann auch auf schwer zugängliche Vorlesungsinhalte außerhalb der vorgeschriebenen Curricula zugegriffen werden – kann das ein Gegengewicht zur zunehmenden Verschulung der Universität bilden?
Hrachovec: "Verschulung" und "Ermöglichung von Zugriff" auf Lehrinhalte schließen einander leider nicht aus, im Gegenteil. Es passt durchaus zur Verschulung, dass sie durch den medien-technischen Apparat unterstützt wird. Ich sehe nicht, dass es in dieser Hinsicht einen Unterschied macht, ob es sich um curricular zentrale oder abgelegene Inhalte handelt. Im Dezember 2016 sind von der Audiothek bei 477.580 Zugriffen 246.71 GB Audiofiles heruntergeladen worden – stark verstreut zwischen gängigen und abgelegenen Themen. Ich gestehe, dass ich gar nicht so gerne wissen möchte, wer da was mit den Downloads macht (bzw. nicht macht). Jedenfalls würde ich keine Schlüsse auf die Beförderung alternativer Inhalte ziehen.

Krexner: Nochmal anders gefragt: Könnte umfangreiche Digitalisierung von Lehrinhalten helfen, die weithin zu beobachtende Entwicklung von Bildung zu Ausbildung zu verlangsamen bzw. vielleicht sogar eine Umkehr einzuleiten?
Hrachovec: In diesem Punkt habe ich die Hoffnung aufgegeben. Im Moment scheint es mir ein lohnendes Projekt zu sein, Audiopodcasts von Vorlesungen zur Verfügung zu stellen. Zahlreiche Studierende nützen sie und erhalten dadurch die Möglichkeit, abseits vom konventionellen Vorlesungsbetrieb ihre eigenen inhaltlichen und zeitlichen Zugänge zum gebotenen "Stoff" zu finden. In meinem Bereich kann ich aber nicht beobachten, dass sich daraus eine neue Lernkultur entwickelt. Früher haben Studierende mp3-Rekorder auf die vorderen Tische des Hörsaals gelegt, heute können StudentInnen – und natürlich auch der Rest der Welt – die Inhalte online abrufen. Das ist nicht wenig, aber – gemessen an früheren Hoffnungen – auch nicht viel.

Krexner: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Gerhard Krexner, außerordentlicher Professor an der Fakultät für Physik und Sprecher der Gruppe Physik Funktioneller Materialien. Krexner studierte Mathematik, Physik und Wirtschaftswissenschaften in Wien. Er promovierte 1978 in Kernphysik und absolvierte insgesamt über vier Jahre Forschungsaufenthalte an ausländischen Forschungszentren und Universitäten. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Struktur und Dynamik kondensierter Materie und Neutronen-Holographie.

Mehr über die Vortragenden Herbert Hrachovec und Paul Wagner:

Herbert Hrachovec ist Hochschullehrer im Ruhestand am Institut für Philosophie an der Universität Wien. In seinen Arbeiten beschäftigte er sich mit analytischer Philosophie, Metaphysik und Ästhetik. Sein gegenwärtiger Arbeitsschwerpunkt sind die Neuen Medien. 2001-2010 war er stellvertretender, zuletzt Institutsvorstand des Instituts für Philosophie, 2006-2010 und 2012-2013 Mitglied des Senates, 2005-2010 Vorsitzender der Curricularkommission der Universität Wien. Weitere Informationen. (Foto: privat)

Paul Wagner promovierte 1974 an der Universität Wien in Physik und Mathematik. Nach zahlreichen Forschungsaufenthalten in Potsdam (N.Y), Göttingen, Kyoto, Helsinki kehrte er als Ao.Univ.- Professor an die Fakultät für Physik, Universität Wien, zurück. 1986 erhielt er den Smoluchowski-Award for Aerosol Research. 1989 wurde er Fellow der Japan Society for The Promotion of Science und 1996 Honorary Member des Committee on Nucleation and Atmospheric Aerosols. 2007 erhielt er das Ehrendoktorat der University of Helsinki. 1995-96 war er Vizepräsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, 1988-96  Vorsitzender des Committee on Nucleation and Atmospheric Aerosols. 1995-2013 hielt er die Hauptvorlesung "Einführung in die Physik" an der Universität Wien. Weitere Informationen. (Foto: privat)

"Universitäre Bildungspraxis im digitalen Wandel"
Mittwoch, 25. Jänner 2017, um 17:00h
Lise-Meitner Hörsaal der Fakultät für Physik
Strudlhofgasse 4, 1090 Wien (1. Stock)