"Die Arktis ändert sich rapide"

Die Arktis ist ein fragiles Ökosystem. Es ist von dem durch den Klimawandel verursachten Temperaturanstieg doppelt so stark betroffen wie andere Regionen. Im Rahmen der Semesterfrage spricht uni:view mit der Arktisforscherin Renate Degen über Veränderungen ökologischer Kreisläufe.

uni:view: Frau Degen, Sie sind Meeresbiologin und Arktisforscherin. Ihr Spezialgebiet ist das sogenannte Benthos. Um welche Art von Ökosystem handelt es sich dabei?
Renate Degen:
Benthos ist der Überbegriff für alle Organismen, die auf oder im Meeresboden leben. Es umfasst sowohl die pflanzlichen als auch tierische Organismen aller Größenklassen: von einzelligen Mikroorganismen bis hin zu Tieren, die wir mit bloßem Auge erkennen können, wie Muscheln, Schwämme oder Krabben. Mich interessieren vor allem die wirbellosen Tiere des Meeresbodens, dazu zählen Borstenwürmer, Mollusken, Krebstiere und Stachelhäuter wie Seesterne oder Seeigel – eine große und vor allem in der Arktis sehr wichtige Gruppe.

uni:view: Wie sind Sie gerade als Binnenländerin zum Benthos und auf die Arktis gekommen?
Degen:
Das Meer hat mich immer schon fasziniert. Ich habe an der Universität Wien studiert und meinen Master bei Monika Bright, Professorin am Department für Limnologie und Bio-Ozeanographie, gemacht, die einen großen Schwerpunkt auf benthische Forschung legt. In die Arktis bin ich dann über das Alfred-Wegener-Institut, dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, gekommen. Im Zuge meiner Doktorarbeit nahm ich an einer Expedition in die arktischen Regionen teil und war begeistert. Wenn man einmal dort war, lässt es einen nicht mehr los. Es ist ein faszinierendes, wunderschönes Ökosystem.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Sommersemester 2018 lautet "Wie retten wir unser Klima?". Die abschließende Podiumsdiskussion findet am 11. Juni statt. Zur Semesterfrage

uni:view: Das Benthos gilt als besonders wichtig für die ökologischen Kreisläufe im Meer. Warum?
Degen:
Die Tiere und Pflanzen des Benthos haben verschiedene Lebensweisen und Strategien. Dadurch wirken sie auf unterschiedliche Ökosystemfunktionen: Sie leiten die Energie aus den oberen Wasserschichten in die Nahrungskette des Meeresbodens und tragen zur Ablagerung von Kohlenstoff in den Sedimenten bei. Ihre verschiedenen Wuchsformen erhöhen die Heterogenität und dadurch auch die Biodiversität und Stabilität von Ökosystemen, z.B. Korallenriffe und Seegraswiesen.

uni:view: Hat das Benthos in der Arktis eine besondere Funktion?
Degen:
Ja, in der Arktis ist das Benthos besonders wichtig, da es durch die Algenblüte im Frühjahr eine starke Verbindung der oberen Meeresschichten zum Meeresboden gibt. Ein großer Teil des Materials sinkt ab und versorgt so das produktive benthische Nahrungsnetz, das von Mikroorganismen bis zu großen Säugetieren wie Walrössern und Grauwalen reicht.

uni:view: In Ihrem aktuellen Projekt "The Arctic Traits" erforschen Sie konkret das Benthos der arktischen Schelfmeere. Was sind Ihre Forschungsziele?

Degen:
Obwohl benthische Ökosysteme seit langem erforscht werden, sind viele Charakteristika und Verhaltensweisen von arktischen Arten noch schlecht dokumentiert. Und gerade weil sich die Arktis so rapide verändert – sie erwärmt sich doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt – ist das primäre Ziel, mehr Informationen zu sammeln. So hoffe ich Einblicke zu gewinnen, wie sich dieses komplexe Ökosystem verändern wird.

Der Klimawandel ist Realität und lässt sich nicht einfach stoppen. Wie wir dazu beitragen können, bestimmte Stressfaktoren für die Umwelt, insbesondere in der Arktis, zu reduzieren, das weiß Renate Degen. Zur aktuellen Semesterfrage

Der konkrete Output des vom FWF geförderten Projekts mit internationaler Kooperation ist die sogenannte Arctic traits database, eine Art funktionelle Karte des Meeresbodens der Arktis. Darin werden die verschiedenen Charakteristika der benthischen Tiere versammelt sein, z.B. Körperbau, Fortbewegung, Art der Fortpflanzung, Verteidigungsstrategien etc. Anhand dieser Datenbank, die für die gesamte wissenschaftliche Community zur Verfügung stehen wird, können wir zum Beispiel auswerten, welche Regionen robuster oder welche anfälliger für verschiedene Störungen sind oder sein werden. Offiziell vorgestellt wird die Datenbank am 15. Mai 2018 im Rahmen der "World Conference of Marine Biodiversity" in Montreal.

uni:view: Wie lässt sich das messen?
Ein Beispiel:
Typisch arktische Arten, die an niedrige Wassertemperaturen optimal angepasst sind, sind natürlich durch Temperaturänderungen stark betroffen. Indem wir unsere gesammelten Daten mit den verschiedenen Umweltparametern wie etwa der Wassertemperatur in Beziehung setzen, sehen wir welche Arten stark betroffen sind, wenn sich wärmere Wassermassen weiter nach Norden verschieben.

uni:view: Können damit auch Prognosen erstellt werden?
Degen:
Ja, und zwar indem aus den gesammelten ökologischen Informationen und den relevanten Umweltparametern wie Wassertemperatur, Salzgehalt und Eisbedeckung Modelle generiert werden. Einzelne Parameter dieser Modelle können dann manipuliert werden und wir bekommen so eine Idee, wie das Ökosystem in Zukunftsszenarien reagieren wird.

Warum erwärmt sich die Arktis schneller als andere Regionen?
Renate Degen: "Das liegt an einem Rückkoppelungsprozess: Je höher die Temperaturen in der Arktis werden, desto mehr Meereis schmilzt im Sommer ab und gibt dunkle Meeresoberfläche frei. Der Ozean kann so mehr Sonnenenergie speichern, was zu einer zusätzlichen Erwärmung der Arktis führt und den Prozess immer weiter antreibt." (© Michael Haferkamp/CC BY-SA 3.0)

uni:view: Welche Auswirkungen wird der Temperaturanstieg der Meere im Zuge des Klimawandels auf die Arktis haben bzw. hat er schon?
Degen
: Was man bereits deutlich sieht ist, dass sich die Packeisgrenze, an der ein wichtiger Teil der Primärproduktion stattfindet, immer weiter nach Norden verschiebt. Und das Benthos der Schelfmeere, aber auch Plankton, Fische und Meeresvögel wandern mit – zumindest die Arten, denen es möglich ist. Gleichzeitig rücken andere Arten aus dem Süden nach und verändern die arktische Nahrungskette.

Generalisten wie der Schwertwal haben plötzlich ein größeres Verbreitungsgebiet, finden mehr Futter und können sich besser vermehren, während Spezialisten, also jene Tiere, die sehr enge Nischen besetzen, stärker eingeschränkt sind. Genaue Prognosen abzugeben ist sehr schwierig. Fakt aber ist, dass der Klimawandel in der Arktis wahnsinnig schnell passiert.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (td)

Renate Degen ist Postdoc am Department für Limnologie und Bio-Ozeanographie der Universität Wien. Die Meeresbiologin und Arktisforscherin leitet im Rahmen des Hertha-Firnberg-Programms des FWF das dreijährige Projekt "Benthische Ökosystem Funktionen arktischer Schelfs, Hänge und Tiefseebecken". Kürzlich ist die Publikation "Trait-based approaches in rapidly changing ecosystems: A roadmap to the future polar oceans" zu ihrem aktuellen FWF-Projekt in Science Direct erschienen.

Die Foto- und Videoaufnahmen für die Interviews zur Semesterfrage "Wie retten wir unser Klima?" sind im Glashaus des UZA I in der Althanstraße entstanden. In den Glashäusern des Fakultätszentrums Ökologie der Universität Wien werden mehr als 480 verschiedene Species kultiviert, um auf eine ausreichende Auswahl an Pflanzenmaterial aus den verschiedenen Klimazonen für Unterrichtszwecke sowie für wissenschaftliche Experimente im größeren Umfang zurückgreifen zu können.