Freiwilligen-Organisationen als Integrationsmotoren

"Unterstützungsinitiativen begleiten nicht nur die Integration von Geflüchteten, sie schaffen auch soziales Kapital für Akzeptanz und gegen Vorurteile", sagt Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger. Im Rahmen der Semesterfrage sprach sie mit uni:view über lokale Initiativen für Geflüchtete.

uni:view: Im vergangenen Sommer und Herbst haben wir in Österreich eine Welle der Solidarität mit Geflüchteten, aber auch ablehnende Haltungen erlebt. Was überwiegt?
Sieglinde Rosenberger: In Österreich sind Asyl und Flucht hoch politisierte und polarisierende Themen – sie prägen Wahlkämpfe und Stammtische. Hier dominieren die ablehnenden Haltungen. Aber es fehlt auch nicht an Solidarität mit Geflüchteten: Die NGOs machen advokatorische Arbeit und treten für die Rechte von Flüchtlingen ein; viele BürgerInnen setzen sich für das Bleiben von MigrantInnen ein, z.B. indem sie gegen zwangsweise Abschiebungen protestieren.

uni:view: Wenn man sich die vielen Medienberichte anschaut, haben zahlreiche ÖsterreicherInnen freiwillig geholfen, ob an Bahnhöfen oder Grenzübergängen.  
Rosenberger: Im Sommer 2015 waren die etablierten Hilfsorganisationen besonders gefordert. Dass sich Freiwillige und AktivistInnen so zahlreich engagiert haben, war für viele überraschend. Und angesichts der hohen Zahl an Flüchtlingen, die nach und durch Österreich reisten, richtete sich auch die mediale Aufmerksamkeit auf diese ad-hoc Hilfsbereitschaft – die wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Situation bewältigt und Eskalationen vermieden werden konnten. Die Politik alleine hätte es jedenfalls nicht geschafft.

uni:view: Auch in Österreichs ländlichen Gemeinden gibt es zahlreiche freiwillige Unterstützungsinitiativen. Wie sind sie entstanden?
Rosenberger: Vor einem Jahr lag der Anteil an Gemeinden, in denen Flüchtlinge untergebracht sind, noch bei 30 Prozent – heute sind es 65 Prozent. Das bedeutet, dass insbesondere ländliche Gemeinden sich in einem Prozess des Wandels befinden – sie werden kulturell und religiös heterogener. Viele Gemeinden protestierten gegen die Unterkünfte und somit gegen die Präsenz von Flüchtlingen. In vielen dieser Gemeinden haben sich aber auch Freiwilligen-Initiativen gebildet. Mittlerweile gibt es österreichweit mehrere hundert Initiativen, deren Leistungen aber wenig öffentliche Aufmerksamkeit oder politische Anerkennung bekommen.

uni:view: Was leisten die Unterstützungsinitiativen auf Gemeindeebene?
Rosenberger: Ähnlich wie die HelferInnen an Bahnhöfen und Grenzübergängen sind die lokalen Gruppen zunächst an der Versorgung der ankommenden Menschen beteiligt. Die Initiativen sind Hilfsvereine, sie sind aber auch Begleiterinnen von Integrationsprozessen vor Ort; sie unterstützen sowohl die Integration der Geflüchteten in die Gesellschaft als auch den Zusammenhalt der diverser werdenden  Gemeinden. Die Initiativen sind, das ist meine These, die Brückenbauer in den sich rasch verändernden und somit ungewissen Gesellschaften.

uni:view: Die Initiativen sind also auch politisch relevant?
Rosenberger: Ja, und das aus mehreren Gründen. Zum einen stehen sie in einem ambivalenten Verhältnis mit wohlfahrtsstaatlichen Strukturen – die einen meinen, sie würden den Staat aus der Pflicht nehmen, die anderen meinen, sie würden ihn ergänzen. Zum anderen sind sie semi-institutionalisierte Integrationsagenturen. Als Knotenpunkt zwischen Flüchtlingen, lokaler Bevölkerung und lokaler Politik bilden sie den "Ort" an dem soziale Integration erfolgen kann.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

uni:view: Und wie wird sich die europäische Gesellschaft verändern – also was ist Ihre Antwort auf unsere Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?"
Rosenberger: Soziale und politische Veränderungen sind in einer globalisierten Welt eigentlich nichts Ungewöhnliches. Veränderungen, die durch Flucht motiviert werden, bergen aber doch einige Besonderheiten: Zum einen kommt die Veränderung von außen, von Kriegen und Armut, die nicht zu "uns" gehören. Zum anderen erreicht Migration in sozialer Hinsicht erstmals auch die ländlichen Gebiete. In kleinräumigen Zusammenhängen, wo Politik und Zusammenleben oft von Traditionsvereinen geprägt sind, ist der Umgang mit unterschiedlichen Religionen, unterschiedlichen Kulturen, sozialen und politischen Erfahrungen ein neues Phänomen. Traditionen treffen auf Traditionen.

uni:view: Was bedeutet das für das Zusammenleben der Menschen?
Rosenberger: Menschen begrüßen diese Veränderungen selbstverständlich nicht nur, sondern weisen sie auch zurück. Die Frage ist, wer den Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheiten begleitet, wie dieser Wandel moderiert wird. Da spielen die lokale aber auch die nationale Politik eine wesentliche Rolle. Allerdings ist die Politik, gerade in Wahlkämpfen, nicht nur am Integrieren, sondern auch am Polarisieren interessiert. Die Unterstützungsgruppen sind daher bedeutsam: Sie sind eine neue politische Beteiligungsform, die soziales Kapital schafft, mit dem Menschen die Gestaltung des Zusammenlebens unmittelbar selbst in die Hand nehmen.

uni:view: Manche Umfragen sprechen davon, dass die Akzeptanz von MigrantInnen in der Bevölkerung schwindet.

Rosenberger: Die Akzeptanz ist unterschiedlich. Wesentlich ist, dass Unterstützungsgruppen dabei helfen, Ressentiments in der Bevölkerung abzubauen.
So zeigt unsere Analyse des Landtagswahlergebnisses in Oberösterreich, dass sogenannte "Unterstützungsgemeinden" ein auffallend anderes Wahlergebnis aufweisen als "Nicht-Unterstützungsgemeinden". Wo Geflüchtete untergebracht und Unterstützungsinitiativen aktiv waren, haben Angst-Parolen weniger Resonanz gefunden.

uni:view: Was hilft gegen Angst und Ressentiments?
Rosenberger: Aktuelle Forschungen zur Akzeptanz und Ablehnung von MigrantInnen bei der Bevölkerung unterstreichen die sogenannte "soziale Kontaktthese": Demnach ist das Ausmaß der sozialen Akzeptanz von Zugewanderten davon abhängig, ob die Bevölkerung Kontakte und Beziehungen mit geflüchteten Menschen hat – ob sie Namen und Gesichter kennt, ob Begegnungsorte existieren. Dort, wo soziale Nähe besteht, gibt es mehr Akzeptanz, werden Vorurteile in der Bevölkerung abgebaut, kurzum funktioniert die Integration besser.



uni:view: Was empfehlen Sie der Politik?

Rosenberger: Kurzfristig mag eine Politik der Zäune und der Grenzschließung den Eindruck machen, nationalstaatliche Souveränität wieder hergestellt zu haben. Mittelfristig wird sich diese Politik als Bumerang erweisen – sie wird das Vertrauen in politisches Handeln und Institutionen weiter erodieren lassen, sie wird nationalistische, anti-europäische Einstellungen und Parteien stärken.

Vor diesem Hintergrund sollte liberale Politik, im höchst eigenen Interesse, Freiwilligen-Organisationen im Flüchtlingsfeld unterstützen, ihnen Anerkennung und Infrastruktur geben, ihnen aktiv unter die Arme greifen. Denn sie leisten einen wesentlichen Beitrag zu sozialer Kohäsion, oder anders ausgedrückt: zu integrierten, aufeinander bezogenen, solidarischen Gesellschaften.

uni:view: Danke für das Gespräch! (jr)

Sieglinde Rosenberger wird sich am 11. und 18. Mai auf "derStandard.at" mit einer der komplexesten Herausforderungen im Zusammenhang mit Migration auseinandersetzen. Sie wird mit der Community diskutieren, welche Voraussetzungen in Österreich geschaffen werden müssen, damit Integration nachhaltig gelingt. Diskutieren Sie mit!

Univ.-Prof. Sieglinde Rosenberger ist Professorin für Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien. Sie leitet die Forschungsgruppe "InEx Politics of Inclusion and Exclusion" am Institut für Politikwissenschaft sowie mehrere Forschungsprojekte zum Thema (etwa "Inside the deportation gap – social membership for non-deported persons" oder "Taking sides: Protests against the deportation of asylum seekers")