Thomas Ertl: Die vielen Gesichter des Mittelalters

"Das Mittelalter ist keine dunkle Epoche", findet Thomas Ertl, seit Oktober 2011 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Die Beschäftigung mit der Vielfalt des Mittelalters ist für ihn reizvoll, und kann auch dazu beitragen, das heutige Europa besser zu verstehen.

Die Themen, mit denen sich Thomas Ertl beschäftigt, sind durchaus aktuell: "Über die letzten Jahre hat es sich immer mehr auch in der Mediävistik etabliert, über den Tellerrand Europas hinaus zu blicken", erklärt Thomas Ertl, der nach über zwölf Jahren an der FU Berlin im Oktober 2011 als Professor an seine Heimatuniversität Wien zurückgekehrt ist: "Europa existierte in dieser Zeit nicht von der Welt abgeschottet, so gab es unter anderem über die Seidenstraße Güter- und Wissensaustausch mit Asien. Es ist deshalb wichtig, Europa nicht als 'statisches Gebilde' zu verstehen und es in größere Zusammenhänge einzubinden." Insbesondere interessieren den Historiker dabei die Verbindungen Europas zum Kaiserreich China und dem indischen Subkontinent.

Diversität in Europa und Indien

Dieser globale Ansatz findet sich auch in seinem aktuellen WWTF-Projekt "Handling Diversity. Medieval Europe and India in Comparison (13th-18th Centuries)" wieder, das seit Mai 2012 in Kooperation mit der indischen Universität Jawaharlal Nehru (Neu Delhi) läuft. Darin untersuchen Ertl und seine KollegInnen die unterschiedlichen Formen des mittelalterlichen Umgangs mit "dem Fremden": Gab es vielleicht allgemeine Muster, wie Europäer und wie Inder mit ethnischer und religiöser Diversität, mit Minderheiten und niedrigen sozialen Schichten umgingen?

"In diesen Projekt brechen wir sowohl die klassische mittelalterliche Zeitspanne als auch den geografischen Raum auf", so Ertl: "Wir beschäftigen uns dabei mit Fragestellungen, die einen starken Gegenwartsbezug aufweisen. Stichwort Migration." Der Mittelalterforscher vermutet, dass Europäer und Inder auf ähnliche Herausforderungen ähnlich reagierten, besonders spannend sei allerdings, "wie Konflikte und ihre Lösung jeweils rhetorisch, rechtlich und geschichtswissenschaftlich ausgehandelt wurden."

"Die Seidenmetapher"

Neben den Verflechtungen der Welt vor 1800 bilden Textilien – "Kleider machen Leute" – einen weiteren großen Forschungsschwerpunkt von Thomas Ertl. Und der ist ganz und gar nicht oberflächlich. "Anhand der unterschiedlichen Stoffe, die Leute aus verschiedenen Schichten durch die Jahrhunderte des Mittelalters tragen, können wir sowohl die Gesellschaftsordnung als auch ihren Wandel erkennen."

In seiner Antrittsvorlesung zeigt Thomas Ertl dies anhand des Luxusstoffes Seide auf. "Theologen und Historiker des Mittelalters haben häufig Seide als Metapher zitiert, um über ihre Gesellschaft nachzudenken." Dabei erzeugt dieser Stoff sowohl positive als auch negative Bilder: Seide galt als Symbol für "sündhaften" Luxus und Gottesferne, gleichzeitig stand sie – vor allem bei Herrschern und Frauen – für Eleganz und Würde.

Grund und Boden

Der dritte Forschungsschwerpunkt des gebürtigen Tirolers sind Landmärkte – also keine Gütermärkte, sondern der "Handel" mit Grund und Boden und dessen Eigentum. "Das landläufige Bild, dass Grundherren ihre Bauern unterdrückten und diese wie fromme Schafe ihren Dienst verrichteten, stimmt für das Mittelalter nicht. Bauern waren häufig aktive Investoren und Spekulanten, die mit ihrem Land eigenständig handelten und ihren Gewinn zu maximieren suchten."

Zurzeit bereitet der Mediävist gemeinsam mit seinem Kollegen Markus Cerman ein Drittmittelprojekt vor, in dem die bäuerlichen Landmärkte in Norditalien und Österreich verglichen werden sollen. "Damit überwinden wir eine alte Dichotomie in der Forschung, die häufig davon ausging, dass dynamische Landmärkte nur in Westeuropa existierten.. Diese Einteilung in fortschrittliche und rückständige Regionen entsprach aber nicht der Wirklichkeit. Das europäische Mittelalter war äußerst bunt und vielfältig."

Zurück in Wien


Nach über zwölf Jahren im Ausland – mit Basis in Berlin und Stationen u.a. in Rom, Göttingen, Heidelberg und Erlangen – freut sich Thomas Ertl, wieder in Österreich zu leben und zu arbeiten. Noch dazu als Professor an seiner "Heimatuniversität": "Einerseits ist hier alles sehr vertraut und doch wieder ganz neu", sinniert Ertl: "Ich habe mich verändert, die Stadt hat sich verändert und auch die Universität Wien: Es ist alles internationaler geworden und es herrscht eine ansteckende Aufbruchstimmung." (td)  

Univ.-Prof. Mag. Dr. Thomas Ertl hält seine Antrittsvorlesung zum Thema "Die Seidenmetapher. Fäden eines sozialen Diskurses im europäischen Mittelalter" am Mittwoch, 31. Oktober 2012, um 17 Uhr im Kleinen Festsaal der Universität Wien.