Stephan Müller: Von Heldensagen, Zauberformeln und Geheimschriften

Der Germanist Stephan Müller, der seit August 2010 die Professur für Ältere Deutsche Sprache und Literatur innehat, verbringt einen Großteil seiner Zeit mit dem Frühmittelalter: Er beschäftigt sich mit den frühesten Zeugnissen der deutschen Sprache ab dem 8. Jahrhundert. Am Freitag, 15. April 2011, 17 Uhr, hält Müller seine Antrittsvorlesung zum Thema "Die Aura des Alphabets. Die Geheimschrift Rudolfs des Stifters und die litterae der Politik".

Die Faszination für das Mittelalter hat Stephan Müller während seines Studiums an der Ludwig-Maximilians-Universität München gepackt: "Mich haben die Verbindung von Geschichte und Kulturwissenschaft und deren komplexen Zusammenhänge in Bezug auf das Mittelalter begeistert."

Über seine neue Professur am Institut für Germanistik freut sich der gebürtige Bayer besonders, da Wien für MittelalterforscherInnen ein wichtiger Standort ist: "Einerseits liegt die österreichische Nationalbibliothek, die über den größten Bestand an frühmittelalterlichen Handschriften verfügt, sozusagen um die Ecke. Andererseits ist die Universität Wien mit ihrem großen Fächerspektrum, gerade was ältere Philologien betrifft, ideal für interdisziplinäres Arbeiten."

Fremdsprache Althochdeutsch

Die frühesten Zeugnisse in deutscher Sprache finden sich ab dem 8. Jahrhundert. Insgesamt ist das Textkorpus vergleichsweise klein, da damals hauptsächlich auf Latein geschrieben wurde. "Weniger als ein Prozent der überlieferten Schriftstücke ist deutsch", so Müller: "Die deutschen Texte sind dabei sprachlich schwer zugänglich und eine richtige Herausforderung. Althochdeutsch ist quasi eine Fremdsprache."

Inhaltlich handelt es sich bei den Texten um Relikte von Heldensagen, Zaubersprüche oder Textfragmente, deren Funktion sich heute oft nicht mehr wirklich erschließen lässt. "Damals haben ja ausschließlich Mönche geschrieben, doch manche der Inhalte passen so gar nicht in ein Kloster. Gerade das macht ein Studium der Schriftstücke komplex", erklärt der Germanist.

Aber nicht nur sprachlich sind die Texte schwer zugänglich, ein anderer Aspekt der Fremdheit ist, dass einige in Geheimschrift verfasst sind: "Für die wenigen Menschen, die zu der Zeit schreiben konnten, galt es als Statussymbol, eine selbst erfundene Schrift zu verwenden", erzählt der Germanist, der gerade ein Forschungsprojekt leitet, in dem er über 100 mittelalterliche Texte in Geheimschrift analysiert und dazu ein Handbuch herausgeben wird.

Schrift und Verschlüsselung

"Eine derart umfassende Darstellung von Geheimschriften des Mittelalters existiert bis jetzt noch nicht", so Müller. Den Hauptgrund dafür sieht er darin, dass die Zeugnisse dieser Epoche lange Zeit als technisch anspruchslos und inhaltlich unspektakulär galten. Dabei werde jedoch vergessen, betont der Mittelalterforscher, dass die Schrift im Mittelalter – als exklusive, nur intimen Kreisen zugängliche Kulturtechnik – andere Anforderungen an Verschlüsselungen gestellt habe als in der Neuzeit.

So sind die Geheimschriften von damals vergleichsweise leicht zu knacken. Eine beliebte Verschlüsselungstechnik war zum Beispiel A=B, E=F, I=K, usw. "Inhaltlich wurden Zaubersprüche, Teufelsbeschwörungen und später dann alchemistische Formeln in Geheimschrift verfasst", erklärt Stephan Müller: "Durch die Verwendung einer Geheimschrift machten sich die damaligen Schreiber ganz einfach interessanter."

Die Geheimschrift Rudolf des Stifters

In seiner Antrittsvorlesung am 15. April wird Stephan Müller die Geheimschrift am Grab des Gründers der Universität Wien, Rudolf dem Stifter, analysieren. "Dabei handelt es sich um eine Geheimschrift, die Rudolf IV. erfunden haben soll. Das werde ich im Rahmen meiner Vorlesung kritisch überprüfen", so Müller. Rudolf IV. sorgte damit selbst für den Beinamen, den er 400 Jahre nach seinem Tod erhielt: Erst nach der Entschlüsselung der geheimen Grabinschrift im 18. Jahrhundert, die das Wort "fundator" enthält, wurde er zum "Stifter".

Siegfried und andere Helden

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt des vielseitigen Mittelalterforschers sind althochdeutsche bzw. mittelalterliche Heldensagen: "In Rückbesinnung auf ein 'Heldenzeitalter' erzählt man sich von der Vergangenheit und Herkunft der eigenen Gemeinschaft, wobei historische Realität und Mythos ineinander übergehen." So ist zum Beispiel die Nibelungensage, die in der Zeit der Völkerwanderung zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert entstanden ist, auch heute noch jedem Schulkind bekannt. "Gerade in Krisenzeiten, und eine solche Zeit war die Völkerwanderung, hatten Heldensagen einen hohen Stellenwert. Sie vermittelten Identität, Stabilität und Kontinuität."

Inspiration durch Studierende

Die Lehrtätigkeit liegt Müller besonders am Herzen, einerseits um den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern und das Fach am Leben zu erhalten, andererseits ist ihm der Austausch mit den StudentInnen sehr wichtig: "Meine Forschungsarbeit wird durch die Lehrtätigkeit inspiriert." Das wissen auch die angehenden GermanistInnen zu schätzen. Besonders beliebt ist dieses Semester sein Seminar "Zauber- und Segenssprüche des Frühmittelalters", wo die Studierenden am Ende des Semesters gemeinsam mit Müller eine kleine Publikation herausbringen werden. "Diese Art von angewandter Lehre kommt hoffentlich gut an. Und auch mir macht's großen Spaß." (td)

Die Antrittsvorlesung von Univ.-Prof. Dr. Stephan Müller vom Institut für Germanistik zum Thema "Die Aura des Alphabets. Die Geheimschrift Rudolfs des Stifters und die litterae der Politik" findet am Freitag, 15. April 2011, um 17 Uhr gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. habil. Eva Horn, ebenfalls Institut für Germanistik, im Großen Festsaal der Universität Wien statt.