Raphael Rosenberg: Über die Wahrnehmung von Kunst

Betrachten wir Kunstwerke der Vergangenheit mit "heutigen Augen" anders? Wie hat sich die Wahrnehmung von Kunst im Laufe der Zeit verändert? Diese Fragen beschäftigen den vielseitigen Kunsthistoriker Raphael Rosenberg, der seit September 2009 die Professur für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät innehat. Am Dienstag, 14. Juni 2011, 18 Uhr, hält Rosenberg seine Antrittsvorlesung zum Thema "Gleiche Bilder – verschiedene Sprachen. Die historische Bedingtheit visueller Systeme".

Die italienische Renaissance fasziniert Raphael Rosenberg nicht nur wegen der einzigartigen Kunstwerke, die diese Epoche hervorgebracht hat, sondern auch wegen des theoretischen Diskurses, der die Werke begleitete. "In der Renaissance beginnt das Sprechen und Schreiben über Kunst. Dadurch hat sich auch der Status von Kunst verändert", so Rosenberg: "Zu dieser Zeit entstanden überhaupt erst die Grundlagen für das Fach Kunstgeschichte." Heute zählt die Renaissance zu den am besten untersuchten kunsthistorischen Epochen. "Gerade das macht sie besonders spannend: Wir kennen fast 'jeden Stein', der aus aus dieser Zeit erhalten ist, und sind somit in der Lage, methodisch interessante, komplexe Fragen zu stellen und in die Tiefe zu gehen", erzählt der 1962 in Mailand geborene Kunsthistoriker begeistert.

Mailand – Basel – Paris


Rosenbergs Interesse für die italienische Renaissance wird während seines Studiums an der Universität München geweckt. Als Mitglied eines Graduiertenkollegs an der Universität Bonn forscht er anschließend zur europäischen Rezeption dieser Epoche. Er promoviert 1996 an der Universität Basel über einen seiner Lieblingskünstler, Michelangelo. Dabei interessiert ihn besonders die Frage, wie Werke der Renaissance im Laufe der Zeit unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert wurden. Zu weiteren Karrierestationen Rosenbergs zählen die Universität Freiburg, das Collège de France in Paris, das Wissenschaftskolleg zu Berlin sowie die Universität Heidelberg.

Neue, alte Heimat Wien

Mit Österreich und Wien verbindet den Wissenschafter die Familiengeschichte väterlicherseits: Sein Urgroßvater war bis zur Machtübernahme der Nazis Oberkantor in der Synagoge der Seitenstettengasse. Die Familie wurde ab 1938 bedroht, sein Vater wurde im Alter von zehn Jahren mit einem Kindertransport nach England gebracht und kam von dort über Palästina nach Mailand: So wurde die norditalienische Großstadt die neue Heimat der Familie Rosenberg. "Meine Mutter stammt aus Frankreich, daher ist Französisch meine Muttersprache und Italienisch meine Zweitsprache", so der Kunsthistoriker über seinen kosmopolitischen Hintergrund: "Deutsch lernte ich erst so richtig im Gymnasium, obwohl ich zu Hause von meiner Großmutter immer schon ein paar Brocken Wienerisch mitbekommen habe."

Bis zu seiner Berufung an die Universität Wien hatte Rosenberg allerdings wenig Kontakt mit Österreich. "Persönlich verband mich wenig mit dem Land – abgesehen von der österreichischen Staatsbürgerschaft", erzählt der Renaissance-Experte: "Doch die Vergangenheit hat mich eingeholt: So heimisch wie hier in Wien habe ich mich noch an keinem anderen Ort gefühlt. Wien ist die Stadt, in die ich hingehöre, ohne es gewusst zu haben."

Die Wanderung des Auges

Auch an der Universität Wien fühlt sich der Wissenschafter wohl: "Die KollegInnen sind sehr offen, und auch für interdisziplinäre Forschung herrschen an der Universität Wien ideale Voraussetzungen." Beispielsweise ist der Kunsthistoriker Mitglied der neuen fakultätsübergreifenden Forschungsplattform "Cognitive Science". Hierfür untersucht er in seinem eigens eingerichteten Labor für empirische Bildwissenschaft, wie das Auge über Kunstwerke wandert, um mehr über Kunstbetrachtung und -wahrnehmung herauszufinden.

Möglich ist das mit einem sogenannten "Eye-Tracker", mit dem die Blickbewegungen von BetrachterInnen eines Kunstwerks im Labor aufgezeichnet werden können. Rosenberg konnte herausfinden, dass sich das Auge völlig anders verhält, als es Kunsthistoriker traditionell angenommen haben. Gleichzeitig besteht dennoch eine enge Verknüpfung zwischen der Struktur, also der Komposition, von Kunstwerken und den häufig wiederholten Blickbewegungen. "Derzeit untersuche ich vor allem Unterschiede  des Blickverhaltens, etwa zwischen Laien und ExpertInnen – auch in Abhängigkeit verschiedener kultureller Hintergründe. Ich hoffe daraus Aufschluss über historische Sehweisen zu gewinnen."

Täglicher Kontakt mit Kunst

"Nur Paris und London befinden sich in punkto Museen und Kunstdenkmälern auf Augenhöhe mit Wien", so Rosenberg: "Das macht die Lehre so spannend, dass hier der tägliche Kontakt mit Kunstwerken gegeben ist." Der Kunsthistoriker animiert die StudentInnen, sich so oft wie möglich mit Originalen zu beschäftigen. Außerdem interessieren ihn besonders interdisziplinäre Fragestellungen: So verknüpfte er etwa in seinem Seminar "Bilder hören – Musik sehen" das Fach Kunstgeschichte mit der Musikwissenschaft. (td)

Die Antrittsvorlesung von Univ.-Prof. Dr. Raphael Rosenberg zum Thema "Gleiche Bilder – verschiedene Sprachen. Die historische Bedingtheit visueller Systeme" findet am Dienstag, 14. Juni 2011, um 18 Uhr im Kleinen Festsaal der Universität Wien statt.