Zwischen Kunst und Alltag

Wodurch unterscheidet sich die Betrachtung eines Kunstwerkes von der Auseinandersetzung mit alltäglichen Bildern? Der Psychologe Helmut Leder und der Kunsthistoriker Raphael Rosenberg analysieren, inwiefern sich das "ästhetische Empfinden" verändert, wenn Gemälde länger betrachtet werden.

Die Fragestellung des WWTF-Projekts "Time makes the difference! Uncovering the nature of aesthetic experience" entstand im Rahmen des Forschungsschwerpunkts "Psychologie der Ästhetik und Kunstwahrnehmung" sowie der Forschungsplattform "Cognitive Science". Zusammen mit Raphael Rosenberg vom Institut für Kunstgeschichte geht Projektleiter Helmut Leder, Vorstand des Instituts für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden, der Frage nach, ob Kunst im Gegensatz zu Alltagsdingen ein langanhaltendes positives Gefühl erzeugen kann.

Interdisziplinär


"Wir haben die Besonderheiten unserer Forschung zusammen gebracht", so Leder. Die beiden Fächer vertraten in der Vergangenheit verschiedene Auffassungen darüber, unter welchen Bedingungen die Verarbeitung von Kunst wissenschaftlich analysiert werden sollte. "PsychologInnen verwenden in Experimenten meistens kurze Darbietungszeiten und spontane Eindrücke, während die KunsthistorikerInnen annehmen, dass sich die wahren Kunstgenüsse über lange Betrachtungszeiten entwickeln", erläutert Leder. Diese Frage wollen die ForscherInnen nun gemeinsam angehen. Es handelt sich hier um einen der seltenen Fälle, in denen ganz explizit interdisziplinär an ein derartiges Thema herangegangen wird.

Andere Dimensionen


"Mit der Berufung an die Universität Wien hat sich Möglichkeit ergeben, mit einem Psychologen, mit einer einzigartigen Expertise und Spezialisierung im Bereich der visuellen Ästhetik, zusammenzuarbeiten", so Rosenberg, der seit einigen Jahren das erste Blickbewegungslabor an einem kunsthistorischen Institut betreibt. Obwohl sich laut Rosenberg die Kunstgeschichte und Psychologie bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert angenähert haben – vor allem die Wiener Kunstgeschichte sei durch das Interesse an der Kunstpsychologie geprägt – sieht der Wissenschafter in dem interdisziplinärem WWTF-Projekt ein absolutes Novum.

Komplexe Kunstwerke

KunsthistorikerInnen wählen die Kunstwerke aus, die im Rahmen des Projekts von den Versuchspersonen – mit unterschiedlicher Expertise – im Museum sowie im Labor betrachtet werden sollen. Die Komplexität ist dabei zentrales Kriterium: "Unterschiede zwischen ExpertInnen und Laien dauern umso länger an, je komplexer das betrachtete Kunstwerk ist", erklärt Rosenberg, der in der – bisher vernachlässigten – Definition von Dimensionen der Komplexität ein wichtiges Projektziel sieht. Aus der kunsthistorischen Forschungstradition heraus werden dann Hypothesen darüber entwickelt, wie der ästhetische Genuss beschrieben werden kann. "Wir übersetzen das in psychologische Termini", ergänzt Leder.

Emotionsmessungen

Und das geht so: Die PsychologInnen werden anhand der Gesichtsmuskulatur-Änderungen die emotionalen Reaktionen messen (Gesichts EMG) und die Augenbewegungen der Betrachter aufzeichnen. Sie versuchen herauszufinden, wie sich die Komplexität auf unterschiedliche Versuchspersonen – und insbesondere auf den zeitlichen Ablauf der Betrachtung des Werkes – auswirkt und die Veränderungen in den Gedanken der BetrachterInnen über die Zeit zu erfassen. Eine gute Methode um unbewusste emotionale Reaktionen zu erforschen. Das Neue an der Herangehensweise: die Emotionsmessungen werden über lange Zeiträume durchgeführt.


Im Labor – oder auch direkt im Museum – werden anhand der Augenbewegungen und Gehirnströme die emotionalen Reaktionen der ProbandInnen beim Betrachten eines Kunstwerkes untersucht.



Der Zeitfaktor


"Unsere Hypothese ist, dass sich Kunst von anderen Dingen dadurch unterscheidet, dass auch nach längerer Betrachtungszeit noch positive emotionale Zustände existieren", so Leder. Das würde Kunst von anderen Bildern unterscheiden, an denen man tendenziell eher das Interesse verliere. Es sei denkbar, dass sich diese Prozesse im Bereich der Kunst im Gegensatz dazu "nicht abnutzen". Die größte Herausforderung sieht sein Projektpartner darin, diese These plausibel nachzuweisen und herauszufinden, welche Parameter den Prozess der ästhetischen Erfahrung in seinem zeitlichen Ablauf beeinflussen.

Kein unnützes Tun


"Wir glauben hier etwas auf der Spur zu sein, was die Wahrnehmung von Kunst von der Alltagswahrnehmung unterscheidet", so Leder. Das ForscherInnenteam will klären, welche psychischen Verarbeitungsmechanismen an diesem, aus biologischer Sicht "vermeintlich unnützem Tun – nämlich Bilder herzustellen oder Noten zu produzieren", beteiligt sind. Der Gedanke dahinter sei, dass Kunst Erfahrungen ermöglicht, die sonst nicht in dieser Form gemacht werden können.


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"Fokus Kognition"



Erfahrungsgemäß interessierten sich auch KünstlerInnen meist für die Wahrnehmungspsychologie, da "es ja eigentlich auch ihr Metier ist", so Leder. "Wo unsere Forschung noch ein wenig hinterherhinkt ist, dass sie die Besonderheit dessen, was Kunst ausmacht noch nicht wirklich versteht, aber genau das versucht unser Projekt in einem Aspekt aufzulösen", so der Wissenschafter. (APA/ps)


Das Projekt "Time makes the difference! Uncovering the nature of aesthetic experience" läuft von 1. März 2012 bis 28. Februar 2015 unter der Leitung von Univ.-Prof. Dipl.-Psych. Dr. Helmut Leder, Vorstand des Instituts für psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden, und in Kooperation mit Univ.-Prof. Dr. Raphael Rosenberg vom Institut für Kunstgeschichte. Das Projekt, an dem außerdem Caroline Fuchs, M.A. vom Institut für Kunstgeschichte sowie Mag. Michael Forster vom Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden mitarbeiten, wird im Rahmen des Kognitionsforschung Call 2011 vom WWTF gefördert.