Wie universell ist Kunst?

Liegt Schönheit im Auge des Betrachters oder ist Gefallen bis zu einem gewissen Grad "universell"? Ob und wie Kultur oder fachspezifisches Wissen unser "Auge" beim Anblick eines Kunstwerks beeinflussen, untersuchen erstmals KunsthistorikerInnen gemeinsam mit PsychologInnen an der Universität Wien.

Eine Österreicherin und eine Japanerin betrachten dieselben Gemälde, Farben und Linien – die eine in Wien, die andere in Tokyo. Wie unterscheidet sich ihre Wahrnehmung? Beschreiben sie das Betrachtete mit denselben Adjektiven? "Wir wollen wissen, wie universell ästhetisches Empfinden ist und ob bzw. inwieweit es von Wissen und Kultur beeinflusst wird", so der Kunsthistoriker Raphael Rosenberg, und ergänzt: "Japan haben wir für unsere Forschung bewusst gewählt, da es – genauso wie Österreich – über eine jahrhundertealte eigenständige visuelle Kultur verfügt, die bis in die Gegenwart hinein wirkt."

Hintergrund als Vordergrund

Verschiedene Studien zeigen, dass sich Unterschiede in der visuellen Kultur eines Landes im Blickverhalten seiner EinwohnerInnen manifestieren: "JapanerInnen konzentrieren sich stärker auf den Hintergrund eines Bildes, während ÖsterreicherInnen ihren Blick eher auf die Figuren eines Bildes richten und erst in zweiter Linie den Hintergrund betrachten", berichtet Rosenberg und erklärt: "Ich vermute, dass JapanerInnen in einem Gemälde erwarten, dass Figuren und Hintergrund bis zu einem gewissen Grad gleichwertig sind. Daher betrachten sie das gesamte Bild gleichmäßiger." EuropäerInnen hingegen versuchen laut dem Experten über den "Vordergrund" des Bildes – also z.B. die Figuren – das Wesentliche zu verstehen, während für sie der Hintergrund zweitrangig ist.

Was den einen gefällt …

"Während kulturelle Unterschiede des Blickverhaltens von Hanna Brinkmann, Mitarbeiterin der Forschungsplattform Cognitive Science, bereits genauer untersucht wurden, gibt es in Hinblick auf die Wahrnehmung von Linien und Farben noch keine wissenschaftlichen Studien", betont Rosenberg. Dabei sind das die grundlegenden Elemente der Kunst – darin sind sich KunsthistorikerInnen und PsychologInnen einig.

Doch während PsychologInnen hauptsächlich der Frage des "Gefallens" nachgehen – Rundungen werden in der Psychologie z.B. häufig als schöner bewertet als Ecken –, versucht die Kunstgeschichte das Wort "schön" vollständig auszuklammern. "Wir Kunsthistoriker sind der Meinung, Farben und Linien haben unterschiedliche Qualitäten – ob sie jemand mag oder nicht, ist irrelevant. Es ist eine individuelle Geschmacksfrage", so Rosenberg.

Wie betrachten wir Farben und Linien? Welchen Einfluss haben dabei Kultur und Herkunft? Um diese Fragen zu beantworten, bedient sich Raphael Rosenberg gemeinsam mit seinem Team experimenteller Methoden aus der Psychologie und betritt damit "kunsthistorisches Neuland". Dafür werden ProbandInnen verschiedene Gemälde, Linien und Farben gezeigt, deren Wirkung von den Versuchspersonen beschrieben wird. Auch Geräte, die Blickbewegungen messen, werden eingesetzt. (Foto: Armin Plankensteiner, Universität Wien)

Die Grenzen der historischen Analyse

Um die Frage nach der "Universalität in der Kunst" zu beantworten, bringt der Kunsthistoriker gemeinsam mit dem Psychologen Helmut Leder im Rahmen eines WWTF-Projekts die Perspektiven und Methoden beider Fächer zusammen. "Mit unseren klassischen historischen Analysen stoßen wir an gewisse Grenzen. Die experimentelle Methodik der Psychologie hilft uns dabei, in der Diskussion über Linien und Farben – die bereits seit 300 Jahren intensiv geführt wird – einen großen Schritt weiterzukommen", so der Kunsthistoriker und ergänzt: "Wir kombinieren die Kategorienvielfalt der Kunstgeschichte in Hinblick auf die Beurteilung von Linien und Farben mit Experimenten aus der Psychologie."

Lässt sich die Sichtweise antrainieren?

Dafür zeigen die WissenschafterInnen den ProbandInnen in Tokyo und Wien Gemälde sowie Linien und Farben, die sie aus diesen Bildern extrahieren. "Über die anschließenden Befragungen wollen wir herausfinden, wie universell die Bilder und deren grundlegenden Elemente beschrieben werden und wie sich allfällige Unterschiede erklären lassen", erklärt Rosenberg die Vorgehensweise. Sind diese kulturell bedingt, so wollen die ForscherInnen in weiterer Folge wissen, ob sich die Beurteilung des Bildes durch Training eventuell beeinflussen lässt.

Minimaler Konsens

Dabei lautet Rosenbergs Hypothese: Es gibt einen minimalen Konsens, der sich auf wenige Grundregeln beschränkt. "Alles was darüber hinausgeht, ist nicht universell. Wir glauben, dass unsere Ergebnisse die bisherigen Annahmen über Universalität stark einschränken werden", so der Wissenschafter, der dem Projekt großes Potenzial zuspricht, die Grundstruktur des Fachs Kunstgeschichte komplett auf den Kopf zu stellen. "Die Kategorien der Bildbeschreibung, die wir im Projekt untersuchen, werden in der Kunstgeschichte als selbstverständlich angesehen – und wir sind nun dabei, diese über Jahrhunderte gewachsene Grundlage unseres Fachs in Frage zu stellen."

Aber nicht nur in der Theorie sind die Projektergebnisse von großer Relevanz, sondern auch in der Praxis: "Wenn ich eine Message, z.B. in der Werbung, richtig platzieren will, muss ich wissen, dass eine bestimmte Gestaltungsform bei verschiedenen Personen – ob in Japan oder in Europa – unterschiedlich ankommt", betont Rosenberg und ergänzt: "Natürlich nahmen das die Werbefachleute bereits vorher an, doch nun ist diese Theorie empirisch begründet." (ps) 

Das WWTF-Projekt "Universal Aesthetics of Lines and Colors? Effects of Culture, Expertise, and Habituation" unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Raphael Rosenberg, Institut für Kunstgeschichte, läuft von 1. Juli 2016 bis 30. Juni 2019. Projektpartner ist Univ.-Prof. Dipl.-Psych. Dr. Helmut Leder, Vorstand des Instituts für psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden.