Wie der Große Lesesaal klingt

Der Große Lesesaal ist als Lernort sehr beliebt. Wie Lernen in der Universitätsbibliothek Wien "klingt", das gibt es nun als Tondokument. Musikwissenschafter Christoph Reuter hat sich die Aufnahme angehört und erklärt im Interview u.a., wie viel Ruhe es beim Lernen braucht.

Stühlerücken, Schritte, Papier raschelt, ein Bleistift fällt zu Boden und die Belüftungsanlage brummt: Im Großen Lesesaal der Universitätsbibliothek Wien (UB), einem der beliebtesten Lernorte an der Universität Wien, ist es ziemlich leise – aber eben doch nicht ganz. Stören uns die "Lerngeräusche" der Anderen eigentlich beim eigenen Lernen, und wie sehr?

Um die Geräuschkulisse im Großen Lesesaal zu messen – und als Zeitdokument – hat die Universitätsbibliothek Wien die akustische Atmosphäre auf ein Tondokument gebannt. Wer möchte, kann sich diese "Atmo-Aufnahme" online anhören und sich sozusagen virtuell in den Lesesaal versetzen. Ob man beim Anhören von "Lerngeräuschen" wohl in Lernstimmung kommt? Ausprobieren! "Wir sind u.a. deshalb auf die Idee gekommen, den Lesesaal akustisch abzubilden, weil sich die Aufgaben von wissenschaftlichen Bibliotheken ändern bzw. neue Anforderungen auf uns zukommen – Stichwort Archivierung von primären Forschungsdaten bzw. Bibliothek als sozialer Ort", sagt Andrea Brandstätter vom Bibliotheks- und Archivwesen der Universität Wien: "Im Rahmen des diesjährigen Jubiläumsjahrs haben wir uns außerdem gefragt: Wird der Lesesaal in hundert Jahren noch immer so klingen?"

Am 18. März 2015 von 12.15 bis 14.45 Uhr wurden zwei Stereoaufnahmegeräte im Großen Lesesaal platziert: ein Gerät in der Mitte der Längsseite auf der Galerie und eines vis-à-vis auf Schreibtischhöhe. Die beiden Tondokumente wurden anschließend zu einem Surround-Signal "zusammengemixt". Die "Atmo-Aufnahme" steht als .wav-Datei über PHAIDRA, dem gesamtuniversitären Digital Asset Management System, zur Verfügung. Dieses Format wird im Best Practice Guide für PHAIDRA (PDF) zur Langzeitarchivierung von Tondokumenten empfohlen.


Interview mit Musikwissenschafter Christoph Reuter

Christoph Reuter ist Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Wien und beschäftigt sich mit Psychoakustik, Gehörphysiologie, auditiver Wahrnehmung und Raumakustik. Er hat sich die "Atmo-Aufnahme" angehört. Im Gespräch mit Andrea Brandstätter beschreibt er die Raumakustik im Großen Lesesaal aus wissenschaftlicher Perspektive und erklärt, welche Geräuschkulisse den Lernerfolg positiv oder negativ beeinflusst.

Andrea Brandstätter: Gibt es ein Geräusch oder generell etwas an dieser Aufnahme, das Sie überrascht hat?
Christoph Reuter: Ja, für mich war es überraschend, dass über dem gleichmäßigen Grundrauschen der Belüftung das Quietschen der Sesselfüße auf dem Steinfußboden sehr prominent hervortritt. Wenn jemand seinen Sessel zurückschiebt, dann kommt es zu plötzlichen Pegelanstiegen von bis zu 30 Dezibel oberhalb des Grundrauschens. Das ist schon ordentlich laut und kann die Konzentration der SitznachbarInnen schon stark beeinträchtigen. Schritte und Papierrascheln oder das Blättern in Büchern gehen im Belüftungsrauschen eher unter. Auch Kugelschreiber o.ä., die auf den Boden fallen, stechen weniger stark hervor. Hier würde sich eine Investition in Filznoppen für die Sesselfüße sicher sehr vorteilhaft auf die akustische Umgebung auswirken.

Brandstätter: Ab wann empfinden wir ein Geräusch eigentlich als unangenehm?
Reuter: Es kommt natürlich auf die Situation an, in der es erklingt: Allgemein sind es v.a. quietschende Geräusche, wie Straßenbahnbremsen, Zahnarztbohrer, Kratzen mit dem Fingernagel an der Wandtafel oder mit der Gabel auf Porzellan, aneinander geriebenes Styropor, etc. All diese Geräuschen haben eines gemeinsam: eine gut erkennbare Tonhöhe sowie starke Energieanteile im Spektrum zwischen 2.000 und 4.000 Hz – ein Bereich, in dem wir aufgrund der Übertragungseigenschaften des Außenohrkanals besonders schallempfindlich sind. Und in diesem Bereich ist auch das Quietschen der Sessel angesiedelt, wobei der abrupte Einsatz mit Sicherheit zusätzlich zum unangenehmen Eindruck beiträgt.

Brandstätter: Wie würden Sie die Raumakustik im Großen Lesesaal beschreiben?
Reuter: Die akustischen Eigenschaften eines Raumes spiegeln sich vor allem in seinem Nachhall wieder. Mit einem Raumvolumen von ca. 7.100 Kubikmetern hat der Lesesaal eine Nachhallzeit von ca. zwei Sekunden, was einer typischen Konzertsaal-Nachhallzeit entspricht. Für Konzerte eignet sich der Lesesaal jedoch weniger – auch wenn seine Säulenstruktur und das Raumformat ein wenig an den Aufbau des Wiener Musikvereinssaals erinnern –, da der Nachhall des Lesesaals klanglich etwas dumpfer und gleichzeitig sehr dicht ist.

Brandstätter: Woran liegt diese Dichte des Nachhalls?
Reuter: Vor allem an den vielen sehr diffusen Reflexionen, die sowohl durch die runden Säulen als auch durch die vielfältige Strukturierung der Wände – Bücherregale, Galerien etc. – hervorgerufen werden. Die vielen verschiedenen Buchrücken tragen ebenfalls stark zur diffusen Schallverteilung bei, wobei durch Stoffeinbände und die Papierflächen hinten in den Regalen die Höhen sehr gedämpft werden. Ähnliches gilt für den Steinfußboden, der an sich eine schallharte, stark reflektierende Oberfläche darstellt, jedoch durch die vielen Tische und Sessel in seiner Wirkung stark aufgelockert wird. Je nachdem, wie stark der Lesesaal besetzt ist, wird auch ein weiterer Teil des Nachhalls, besonders in den Höhen, durch die Kleidung der Anwesenden absorbiert. Durch den Gewölbeansatz an der Decke werden besonders an den Rändern des Saals die Schallanteile gemäß der Hohlspiegelgesetze wieder in den Raum zurückgeworfen, während die Glasdecke selbst weniger stark reflektierend wirkt als es z.B. bei einer fest gemauerten Decke der Fall wäre.

Brandstätter: Was bedeutet das für die Raumwirkung?
Reuter: Die innenarchitektonische Strukturierung durch Säulen, Galerien und Sessel bzw. Tische ist für die Raumwirkung sehr vorteilhaft: Durch den dichten Nachhall werden die Geräusche und eventuelle Gespräche sehr undeutlich, während sich der Gesamtpegel durch die Summe aller Reflexionen zwar ein wenig erhöht, jedoch in vertretbaren Grenzen: Fachlich gesprochen liegt der A-bewertete – d.h. für die gehörorientierte Messung von leisen Schallen angepasste – Durchschnittschallpegel mit ca. 52 dBA trotz der enormen Raumgröße in einem Bereich, der ein wenig über dem Durchschnittschallpegel eines normalen Wohnzimmers liegt.

Brandstätter: Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem der Große Lesesaal stark beschädigt wurde, hat man den Fußboden um eine Etage höher neu eingezogen. Hat sich die Raumakustik durch diese bauliche Maßnahme verändert?
Reuter: Mit Sicherheit sehr positiv: Durch den neu eingezogenen Fußboden verringerte sich das Raumvolumen von ca. 9.400 Kubikmeter um ca. ein Drittel auf das heutige Maß. Vorher waren die Schallwege zwischen den Wänden, dem Boden und der Decke um einiges länger, was sich in einer längeren, schon eher Kirchenschiff-ähnlichen Nachhallzeit widergespiegelt haben muss – wahrscheinlich ca. 2,7 bis 3 Sekunden. Da beim ursprünglichen Lesesaal auch mehr Flächen vorhanden waren, an denen der Schall reflektiert werden konnte, war der Geräuschpegel im Raum auch entsprechend höher. Aus akustischer Perspektive ist der heutige Lesesaal sehr viel angenehmer und konzentrationsförderlicher.

Brandstätter: Vielfach wird die Meinung geäußert, dass beim Lernen absolute Stille herrschen muss. Stimmt das? Was sagt die Forschung dazu?
Reuter: Eine ruhige Umgebung ist auf jeden Fall sehr förderlich fürs Lernen: Veränderliche Schalle mit interpretierbaren Inhalten wie Musik oder Sprache wirken sich vielfach störend auf die Konzentrationsfähigkeit aus, da unser Gehör und Gehirn stets daran arbeiten, die eintreffenden Schallinformationen in einen für uns sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Auch wenn wir nicht bewusst hinhören – zum Beispiel wenn die Musik nur im Hintergrund läuft oder am Nachbartisch ein Gespräch stattfindet –, muss vom Gehirn für die Verarbeitung und Interpretation der einkommenden Informationen ständig erneut Energie aufgewendet werden, die dann nicht fürs Lernen eingesetzt werden kann.

Unveränderliche breitbandige Schalle hingegen, wie z.B. Wasserplätschern oder Waldesrauschen, sind für die Konzentrationsfähigkeit sogar eher vorteilhaft: Aufgrund ihrer Gleichmäßigkeit muss beim Hören nicht ständig erneut Energie für ihre Verarbeitung aufgewendet werden; man wird sich solcher Geräusche meist erst bewusst, wenn sie plötzlich ausgeschaltet werden. Gleichzeitig wird durch die Anwesenheit von solchen gleichmäßig und breitbandig rauschenden Schallen die Hörschwelle in weiten Teilen angehoben, so dass andere Schalle nicht mehr so störend wirken. So trägt z.B. das Rauschen der Belüftungsanlage im Lesesaal sehr dazu bei, dass Schritte, Papierrascheln und leises Flüstern von anderen Tischen weniger laut wahrgenommen werden und man sich besser konzentrieren kann.

Das Interview führte Andrea Brandstätter vom Bibliotheks- und Archivwesen der Universität Wien.