Wenn die Gletscher schmelzen

Die Gletscher der Welt sind am Schmelzen: Durch die Klimaerwärmung hat die Mehrheit der Schnee- und Eisriesen deutlich an Fläche und Masse verloren. Diese Entwicklung hat nicht nur dramatische Auswirkungen auf das Landschaftsbild im Hochgebirge, sondern bringt auch Gefahren wie Überschwemmungen und Erdrutsche mit sich. In einem aktuellen EU-Projekt unter der Leitung von Hermann Häusler vom Department für Umweltgeowissenschaften geht ein internationales Forschungsteam dem Risikopotenzial von schmelzenden Gletschern in Europa und Zentralasien auf den Grund. Die dabei gesammelten Erkenntnisse könnten Leben retten.

"Es ist eine bewiesene Tatsache, dass die Gletscher zurückgehen – bis auf wenige Ausnahmen weltweit", erklärt Hermann Häusler. Der Geologe ist Leiter eines groß angelegten EU-Forschungsprojekts, das die Auswirkungen der Klimaveränderung auf das Gletscherverhalten in verschiedenen Untersuchungsgebieten in Österreich (Salzburger Alpen, Goldbergkees und Pasterze), Schwedisch Lappland sowie in Kirgisien (Tien-Shan-Gebirge) analysiert. Dabei arbeitet er eng mit internationalen KollegInnen von mehreren Universitäten – Zürich, Dresden, Taschkent (Usbekistan), Moskau – sowie der Bayerischen, Kirgisischen und Chinesischen Akademie der Wissenschaften zusammen.

Riesen-Flutwellen und instabile Hänge

Mit dem Rückzug der Gletscher sind ernsthafte Konsequenzen für die umliegenden Gebiete und deren BewohnerInnen verbunden: "Einerseits bilden sich im ehemaligen Stirnbereich der abgeschmolzenen Eismassen Seen, die in weiterer Folge ausbrechen und riesige Flutwellen erzeugen können", so Häusler. In solchen Fällen stürzen mehrere tausend Kubikmeter Wasser schlagartig ins Tal. Dabei verwüstet die gewaltige Flutwelle alles, was sich ihr in den Weg stellt: Bäume, Straßen, ganze Dörfer. "Andererseits werden nach einem Gletscherrückzug auch die Hänge instabil und neigen – etwa bei Erdbeben – zu Hangrutschungen." Derartige Katastrophen kosten alljährlich Menschenleben.

Das vorliegende Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, solchen Szenarien durch verbesserte Prognosemodelle und eine angepasste Landnutzungsplanung vorzubeugen: "Die Öffentlichkeit ist sich zu wenig bewusst, welche Gefahren hier wirklich lauern. Wir schauen uns genau an, welche dynamischen Prozesse entstehen, wenn Gletscher abschmelzen. Man muss dieses komplexe System verstehen, um zu wissen, wo man mit Monitoring beziehungsweise Gegenmaßnahmen ansetzen kann. Einen hundertprozentigen Schutz gibt es aber trotzdem nicht."

Vom Himalaya …

Von 1990 bis 2005 sammelte Häusler gemeinsam mit Kollege Diethard Leber vom Department für Umweltgeowissenschaften Erfahrungen im Rahmen eines Georisikoprojekts der Österreichischen Entwicklungshilfe im Bhutan-Himalaya: "Die vom Forschungsteam der Universität Wien vorgeschlagenen Sanierungsmaßnahmen an einem ausbruchsgefährdeten Gletschersee in 5.300 Metern Höhe werden derzeit mit Mitteln des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) umgesetzt." Aufgrund der erfolgreichen Feldarbeit im Himalaya erfolgte 2008 durch das Deutsche GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ) die Einladung zur Projektmitarbeit in der Gletscherregion des zentralen Tien Shan ("Himmelsgebirge") in Kirgisien und zur Unterstützung beim Aufbau des Globalen Hochgebirgsobservatoriums "Gottfried Merzbacher".

… ins Himmelsgebirge

Im Tien-Shan-Gebirge erforscht Hermann Häusler mit seinem Team den Inylchek-Gletscher, den mit 80 Kilometer längsten Hochgebirgsgletscher der Welt: "Wir haben es hier mit einer weltweit einzigartigen Situation zu tun, da auf derselben geographischen Länge und Breite ein Teil des generell im Rückzug befindlichen Gletschers noch immer aktiv vorstößt. Hinzu kommt, dass zwischen dem nördlichen und dem südlichen Inylchek regelmäßig ein See aufgestaut wird, der aufgrund kaum bekannter Ursachen fast jährlich ausbricht."

Um das komplexe Gletschersystem besser verstehen zu können, ist der Geologe jährlich mindestens ein Monat vor Ort. Auch im Sommer 2011 wird die Universität Wien wieder mit einem Forschungsteam im zentralen Tien Shan verschiedene Geländearbeiten zur Beurteilung von Naturgefahren durchführen. "Wir vergleichen das Abschmelzverhalten ausgewählter Gletscher in einer Zeitreihenanalyse analoger und digitaler Satelliten-Fernerkundungsdaten mit einer Re-Analyse von Wetterdaten hochgelegener Klimastationen", so Häusler. "Aus den gewonnen Erkenntnissen leiten wir dann verbesserte Prognosemodelle für die zukünftige Gletscherveränderung und die Temperatur- und Niederschlagsentwicklung in Zentralasien bis 2050 ab."

Zukunft ohne Gletscher?

Was die Zukunftsperspektive der dahinschmelzenden Hochgebirgsgletscher betrifft, will sich der Geowissenschafter auf keine konkrete Prognose festlegen: "Das Gletscherverhalten ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Ich gehe davon aus, dass sich die Situation noch weiter verschärfen wird. Dass es – wie manche KollegInnen meinen – schon in 50 Jahren keine Gletscher mehr geben wird, glaube ich aber nicht. Es existieren sehr fundierte Forschungsergebnisse, die zu weit weniger pessimistischen Einschätzungen kommen." (ms)


Das EU-Projekt "Impact of climate change and related glacier hazards and mitigation strategies in the European Alps, Swedish Lapland and the Tien Shan Mountains, Central Asia" unter der Leitung von Ao. Univ.-Prof. Dr. Hermann Häusler vom Department für Umweltgeowissenschaften wird im Rahmen des FP7 ERA-NET-Calls über "Climate Impact Research in a Larger Europe" (CIRCLE) gefördert. Projektstart war im Dezember 2010, die Laufzeit beträgt zwei Jahre. Als Kooperationspartner fungieren die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (Wien), das Blekinge Institute of Technology (Schweden), das Deutsche GeoForschungsZentrum Potsdam und das Central-Asian Institute of Applied Geosciences in Bishkek (Kirgisien).