"Was ist Deutsch überhaupt?"

Standard, Dialekt oder irgendetwas dazwischen – die deutsche Sprache ist vielfältig. Im hochdotierten Spezialforschungsbereich "Deutsch in Österreich" ist Variationslinguistin Alexandra N. Lenz von der Universität Wien den vielen Facetten der deutschen Sprache in Österreich auf der Spur.

"Llleiwand, lllustig, Blllut" – bei der L-Artikulation strömt die Luft an einer Seite der Zunge, deren Spitze sich hinter die oberen Schneidezähne presst, vorbei und formt so einen lateralen Konsonanten. So beschreiben PhonetikerInnen, womit viele WienerInnen aufgewachsen sind: das "Meidlinger L". Einst sozialer Code für die Arbeiterschicht des 12. Bezirks, ist das "Meidlinger L" mittlerweile über die Grenzen des Bezirks hinaus verbreitet und wurde jüngst sogar zum Weltkulturerbe vorgeschlagen. Dieser und anderen Besonderheiten des Deutschen in Österreich widmet sich Variationslinguistin Alexandra N. Lenz vom Institut für Germanistik der Universität Wien nun in einem Spezialforschungsbereich (SFB), der mit Mai 2015 bewilligt wurde.

VERANSTALTUNGSTIPP: Kick-Off SFB "Deutsch in Österreich"

Der SFB feiert am 14. Jänner seinen Auftakt mit einem spannenden Programm: ExpertInnen besprechen in einer Round-Table-Diskussion moderiert von Stefan Gehrer (ORF) aktuelle Fragen zum Thema Deutsch in Österreich

Donnerstag, 14. Jänner 2016 um 18 Uhr
Großer Festsaal der Universität Wien
Universitätsring 1, 1010 Wien

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Variation: Von Zwischenräumen und Mischformen

Oftmals wird von einem Dualismus von Standardsprache und Dialekt ausgegangen, Alexandra N. Lenz möchte in ihrem aktuellen SFB aber alle Facetten der deutschen Sprache, also auch die Zwischenräume und sprachlichen Mischformen, untersuchen. "In einem professionellen Setting wird anders gesprochen als in einem familiären Rahmen – je nach Umgebung sprechen wir mehr oder weniger dialektal bzw. umgangssprachlich", so Lenz: "Diesen Wechsel zwischen Registern bezeichnen wir SprachwissenschafterInnen als 'innere Mehrsprachigkeit', über die alle SprecherInnen – manchmal ohne sich darüber bewusst zu sein – verfügen."

Über 3.200 VersuchsteilnehmerInnen sowie methodisch vielfältige Zugänge – narrative Interviews, Experimente in Zusammenarbeit mit dem Institut für Schallforschung der ÖAW, Ganztagsaufnahmen mit Mikrofonen – erlauben dem Team, diese innere Mehrsprachigkeit besser zu verstehen. Für die Ganztagsaufnahmen werden SprecherInnen im beruflichen und privaten Kontext 24 Stunden lang aufgezeichnet, und es kann ein vollständiges Sprachprofil der Personen erstellt werden.

In Bayern, Südtirol und ganz Österreich (mit Ausnahme von Vorarlberg) wird Bairisch gesprochen. Doch Bairisch ist nicht gleich Bairisch: Der Sprachraum differenziert sich in Nordbairisch (gelber Bereich auf der Karte), Mittelbairisch (rosa) und Südbairisch (blau). Einen aufgeschlüsselten Sprachatlas für die einzelnen Dialekte im bairischen Sprachraum gibt es bis dato nicht, doch diesem Desiderat möchten Lenz und ihr Team – zumindest für Österreich – nun in einem der neun Teilprojekte nachkommen. (Foto: Wikimedia)  

Sprachkontakt: Mal Erstsprache, mal Drittsprache, mal Fremdsprache

"Was ist Deutsch überhaupt? In einem multikulturellen Land wie Österreich ist es manchmal Erstsprache, mal Drittsprache, mal Fremdsprache – aus dem Kontakt mit anderen Sprachen ergeben sich viele spannende Forschungsbereiche", so Lenz. Der Sprachkontakt ist aber auch historisch gewachsen: Als vergleichsweise kleines Land grenzt Österreich an viele Länder und Sprachräume – Germanisch, Slawisch, Finno-Ugrisch und Romanisch –, die ihre Spuren im Deutschen hinterlassen haben. In einigen südbairischen Regionen schlägt der Einfluss des benachbarten Romanischen durch, zum Beispiel bei der Wendung "Ich habe zu kalt" in Südtirol, die sich grammatikalisch an dem italienischen "Io ho freddo" orientiert.

Die Spezialforschungsbereiche des FWF sind eng vernetzte Forschungsverbünde, die international und interdisziplinär ausgerichtet sind und eine Laufzeit von acht Jahren haben. Der Spezialforschungsbereich "Deutsch in Österreich (DiÖ) – Variation. Kontakt. Perzeption" unter der Leitung von Alexandra N. Lenz vom Institut für Germanistik der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät ist ein geisteswissenschaftliches Gemeinschaftsprojekt: WissenschafterInnen der Universität Wien, der Universitäten Salzburg und Graz sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sind daran beteiligt. Der SFB besteht aus neun Teilprojekten, die sich dem Forschungsgegenstand aus einer interdisziplinären Perspektive nähern: Germanistik, Translationswissenschaften, Slawistik und Digital Humanities. Mit zwölf DoktorandInnenstellen, fünf Postdocstellen und studentischen MitarbeiterInnen steht die Nachwuchsförderung im Zentrum des SFB.

Sprachperzeption: Eine Sprache, viele Wahrnehmungen

Die Diskussion, ob das "Meidlinger L" zum Weltkulturerbe ernannt werden soll, hat kontroverse Reaktionen hervorgerufen – die einen fanden es wohl "llleiwand", die anderen "lllustig". Es handelt sich in jedem Fall um ein Thema, das bewegt: "Das 'alte' Wienerische ist ein gewachsener Dialekt, der so im Stadtbild kaum mehr vorhanden ist. Dieser Sprachwandel wird oftmals als etwas Negatives wahrgenommen, obwohl es doch eine ganz natürliche Entwicklung ist: Wenn sich eine Sprache nicht verändert, ist es eine tote Sprache", so Lenz.

Die Angst vor dem Sprachwandel basiert Lenz zufolge auf der Tatsache, dass Sprache als identitätsstiftend wahrgenommen wird. Besonderheiten auf lautlicher, lexikalischer und grammatischer Ebene werden einer Region oder einem Kreis zugeordnet und unterschiedlich bewertet. Diese Bewertungsmuster möchte Lenz systematisch analysieren, eruiert aus Befragungen und Medienanalysen.

Für die Analyse der Sprachperzeption greifen die ForscherInnen auf Korpusdaten zurück, zum einem auf schriftliche Materialien in Form von Zeitungen, Magazinen, Werbungen oder Blogs, zum anderen auf mündliche Daten wie TV-Reden oder Radiosendungen. Hier: Ein Standbild der W24-Sendung "Beim Feicht" von Jänner 2012, die den Titel "Wienerisch: Eine Sprache stirbt aus" trägt.

Daten zugänglich machen

"Unser Ziel ist einerseits eine erste umfangreiche und detaillierte Analyse zum Deutschen in Österreich mit seinen vielfältigen Varietäten- und Sprachkontakten, deren Ergebnisse publiziert und im Forschungsnetzwerk diskutiert werden sollen. Andererseits werden die im SFB erhobenen und aufbereiteten Daten über eine Online-Plattform verfügbar gemacht", erklärt SFB-Leiterin Alexandra Lenz und ergänzt: "Die Plattform wird am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien im Kontext des 'Austrian Centre for Digital Humanities' (ACDH) gehostet und auch über den SFB hinaus gepflegt und der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen."

"Ein Mekka für SprachwissenschafterInnen"


Alexandra Lenz ist Variationslinguistin durch und durch. Als die gebürtige Mainzerin vor fünf Jahren nach Österreich kam, begeisterte sie sich auf Anhieb für die "sprachliche Vielfalt, die es so wohl in kaum einem anderen europäischen Land gibt – ein Mekka für SprachwissenschafterInnen". Mittlerweile fühlt sich die deutsche Wissenschafterin in Wien beheimatet und sprachlich geschult, einzig die Verabschiedung bereitet ihr noch Schwierigkeiten: "Ich werde wohl nie verstehen, wann 'Auf Wiedersehen' und wann 'Auf Wiederschauen' verwendet wird – das ist wohl die Liebe der ÖsterreicherInnen am Sprachspiel", schmunzelt Lenz. (hm)

Der Spezialforschungsbereich "Deutsch in Österreich (DiÖ) – Variation. Kontakt. Perzeption" unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Alexandra N. Lenz vom Institut für Germanistik der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät wurde im Mai 2015 vom FWF auf eine Laufzeit von zunächst vier Jahren (mit Aussicht auf Verlängerung) bewilligt. ProjektpartnerInnen, die ebenfalls Teilprojekte leiten, sind Univ.-Prof. Mag. Dr. Stefan Michael Newerkla vom Institut für Slawistik der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Budin vom Institut für Translationswissenschaft des Zentrums für Translationswissenschaft sowie Univ.-Prof. Dr. Stephan Elspaß der Universität Salzburg und Univ.-Prof. Dr. Arne Ziegler der Universität Graz.