Von der Seeanemone lernen

Im Schlamm von Flussmündungen versteckt, ernährt sie sich von mikroskopisch kleinen Urkrebsen. Die Rede ist von Nematostella vectensis: Mit nur zwei Keimblättern gehört die winzige Seeanemone zu den einfacher gestrickten Organismen unseres Planeten. Trotzdem ist ihr genetischer Bauplan jenem des Menschen recht ähnlich. Was unterscheidet diese Tiere also von "höheren" Lebewesen? Die Hertha-Firnberg-Stipendiatin Michaela Schwaiger sucht eine Antwort auf diese Frage, indem sie die Evolution genregulatorischer Netzwerke – die Entwicklung der Interaktion zwischen Genen und ihren Produkten – erforscht und dabei wichtige Erkenntnisse für die Stammzellenbiologie sammelt.

Die Molekularbiologin Michaela Schwaiger hat in ihrer bisherigen wissenschaftlichen Laufbahn vor allem die typischen Modellorganismen – wie Mäuse oder Taufliegen – unter die "epigenetische Lupe" genommen. Doch dann wurde die Genom-Sequenz der Nematostella vectensis publiziert – mit einem für die Fachwelt überraschenden Ergebnis: Die unscheinbare Seeanemone besitzt DNA, die bis zu diesem Zeitpunkt nur Wirbeltieren zugesprochen wurde.

"Zum Beispiel gibt es in der Nematostella Gene, die für die Entwicklung des Mesoderms zuständig sind. Das Mesoderm ist jenes Keimblatt, aus dem sich bei Wirbeltieren u.a. die Knochen und Muskeln bilden. Die Seeanemone selbst besitzt aber gar kein Mesoderm", erklärt die Hertha-Firnberg-Stipendiatin. Sie nutzte die Gunst der Stunde – und die publizierte Genom-Sequenz –, um als erste Wissenschafterin die genregulatorischen Netzwerke der Seeanemone epigenetisch zu untersuchen.

Ein Gen – viele Funktionen

"Wenn sich äußerlich sehr verschiedene Organismen auf DNA-Ebene nur kaum durch die Anzahl und Art ihrer Gene unterscheiden, muss der Unterschied in der Genregulation – der Steuerung der Aktivität von Genen – liegen", beschreibt die Nachwuchswissenschafterin ihre Ausgangsthese. Wann und wo welches Gen angeschaltet wird und wofür es Verwendung findet, ist demnach entscheidend. So kann dasselbe Gen, das in der Maus für das Mesoderm zuständig ist, in der Seeanemone eine ganz andere Funktion haben. "Diese – für die Unterschiede in der Entwicklung verantwortlichen – genregulatorischen Elemente will ich mit Hilfe der vorhandenen 'epigenetischen Modifikationen' finden", erklärt die 30-Jährige ihr ambitioniertes Projektziel: "Letzteres sind kleine Moleküle, die an die DNA selbst oder an Histone – Proteinspulen, um die sich die DNA windet – angehängt werden."

Unerreichbare DNA

Die Histone können verschiedene solcher epigenetischen Modifikationen haben: Diese bewirken, dass sich die Histone entweder so eng zusammenschließen, dass die DNA "unerreichbar" wird und Transkriptionsfaktoren – die an DNA binden und dafür sorgen, dass das nächste Gen angeschaltet wird – dort nicht mehr binden können, oder aber, dass sie locker nebeneinander liegen. Auf diese Weise können epigenetische Modifikationen verschiedene Gene an- und ausschalten.

"Ich untersuche in der Seeanemone jene spezielle Modifikation, die in Taufliegen und Mäusen bestimmte Gene, die für die Entwicklung zuständig sind, nach Abschluss ebenjener Entwicklung wieder ausschaltet", so die junge Forscherin. Falls diese Modifikation in der Seeanemone nicht für dieselben Gene zuständig ist, wäre das ein Beleg dafür, dass gleichartige Gene in verschiedenen Organismen unterschiedlich reguliert werden können.

Wo liegt der Unterschied?

Außerdem dienen diese Modifikationen zur "Auffindung" genregulatorischer Elemente: Die sogenannte "Startseite" des Gens – wo RNA produziert wird – ist immer durch epigenetische Modifikationen markiert. Ähnliche Modifikationen sitzen auf den sogenannten "Enhancer" bzw. "Transkriptionsverstärkern". "Im Mausgenom hat man diese gefunden und festgestellt, dass dieses Genom über sehr komplizierte genregulatorische Netzwerke verfügt. Ein Gen kann somit verschiedene 'Enhancer' haben: Der eine bewirkt vielleicht, dass das Gen im Gehirn angeschaltet wird, und der andere ist wiederum für denselben Prozess im Herzen zuständig", führt Schwaiger aus. Sie will nun wissen, ob die Genregulation in der Seeanemone ähnlich funktioniert. Dafür muss sie zunächst alle Transkriptionsstartseiten und "Enhancer" im Genom der Nematostella finden.

Hier betritt Schwaiger Neuland: Bisher hat noch niemand die Seeanemone mit dieser Methode untersucht. "Der Vergleich zwischen den verschiedenen Organismen wie Nematostella, Taufliege und Mensch ist besonders spannend und gibt darüber hinaus Aufschluss über die Entwicklung genregulatorischer Mechanismen", sagt sie.

Programmierte Zellen

Wie epigenetische Modifikationen in der Seeanemone verteilt sind, ist vor allem für die Stammzellenforschung interessant. Im Gegensatz zu Nematostella-Zellen differenzieren sich die menschlichen Zellen im Laufe der Entwicklung: Sie werden umprogrammiert, und bestimmte Gene bleiben für immer an- oder ausgeschaltet. "Eine Hautzelle kann somit nie wieder etwas anderes werden oder gar einen neuen Menschen wachsen lassen – bei der Nematostella ist das möglich", bringt es Michaela Schwaiger auf den Punkt. (ps)

Die Hertha-Firnberg-Stipendiatin Dr. Michaela Schwaiger vom Department für Molekulare Evolution und Entwicklung forscht seit Dezember 2010 zu dem FWF-Projekt "Die Evolution epigenetischer Regulation der Entwicklung", das noch bis Ende November 2013 läuft.