Sozial aus Leidenschaft

Auch in einer reichen Stadt wie Wien werden längst nicht alle satt. Als er vor 15 Jahren die Wiener Tafel gründete wollte Martin Haiderer vor allem eines: Lebensmittelüberschüsse zu jenen bringen, die nichts am Teller haben. Im Interview verrät er, was ihm sein Philosophiestudium erspart hat.

Redaktion: Fühlen Sie sich eigentlich mehr als Philosoph, Soziologe oder Sozialarbeiter?
Martin Haiderer: Es ist eine Mischung aus alldem. Ich habe an der Universität Wien Soziologie, Politikwissenschaften und Philosophie studiert und parallel die SOZAK gemacht. Mein Herzblut lag in der Philosophie, ich habe aber bald realisiert, dass PhilosophInnen selten "gesucht" werden und ich mir beruflich ein zweites Standbein aufbauen sollte. Das war dann die Sozialarbeit, weil das für mich Sinnvolles mit Broterwerb verbindet. Und die Soziologie ist für mich das Bindeglied, um zu verstehen, wie Gesellschaften und soziale Organisationen aufgebaut sind, funktionieren und interagieren.

Redaktion:
Als Sozialarbeiter sind Sie ganz nah an den Menschen und ihren Problemsituationen. Hilft es, als Soziologe darüber zu reflektieren? Wie ergänzt sich das?
Haiderer: Es hilft, weil man unterschiedliche Blickwinkel gewinnen kann. Und das ist es auch, was meine Laufbahn auszeichnet. So war ich von 2004 bis 2010 Sozialsprecher der Caritas Österreich, zugleich aber noch als Sozialarbeiter aktiv und habe dadurch Armutslagen sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich und in der politischen Dimension kennengelernt. Das ist wichtig, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren und um die Themen verschränken zu können.

Redaktion:
Sie haben mehrere berufliche Standbeine. Eines davon ist die ehrenamtliche Arbeit für die Wiener Tafel. Womit verdienen Sie momentan Ihr Geld?
Haiderer: Ich bin Bereichsleiter bei der Caritas Wien für Wohnungslosenhilfe und Jugendarbeit und außerdem selbständiger systemischer Berater mit Lehraufträgen an mehreren Fachhochschulen und Universitäten.

Redaktion:
Wie viel Zeit nimmt die ehrenamtliche Arbeit pro Woche ein?
Haiderer: Das schwankt, aber rund 15 bis 20 Wochenstunden investiere ich in meiner Freizeit in ehrenamtliche Aktivitäten, hauptsächlich in Aktionen der Wiener Tafel, die ich 1999 mit Studienkollegen gegründet habe und deren Obmann ich bin.

Redaktion:
Was war Ihre Vision?
Haiderer: Ich habe damals in einer Einrichtung für wohnungslose Menschen gearbeitet, und gesehen, dass in einem der reichsten Länder der Welt viele Obdachlose wirklich nichts zu essen haben, außer der sprichwörtlichen Klostersuppe, während in Supermärkten die Mülltonnen bis zu einem Drittel mit genießbaren Lebensmitteln gefüllt sind. Ich wollte aus diesen beiden Schattenseiten einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen. So kam die Idee, diese Verbindung zwischen den Stätten des Überflusses und jenen des Bedarfs herzustellen. Wenn es eine Vision für die Wiener Tafel gäbe, dann, dass es die Wiener Tafel irgendwann nicht mehr geben muss, weil alle Menschen soweit abgesichert sind, dass sie keine Almosen brauchen, um sich ernähren zu können.

Redaktion:
Sie arbeiten mit rund 400 ehrenamtlichen MitarbeiterInnen zusammen. Wie finden diese Leute zu Ihnen?
Haiderer: Mittlerweile ist die Wiener Tafel so anerkannt, dass viele an uns heran treten. Unsere Mission "Essen wirft man nicht weg, während andere hungern" ist so einleuchtend, dass sich Freiwillige melden, quer durch politische Lager, Religionen oder soziale Schichten. Bei uns arbeiten SchülerInnen genauso mit wie PensionistInnen, ManagerInnen oder Arbeitslose.


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Redaktion:
Wie kann man bei der Wiener Tafel mithelfen?

Haiderer:
Wir passen uns an die Fähigkeiten, Interessen und Möglichkeiten des einzelnen Freiwilligen an. Unsere Ehrenamtskoordinatorin schaut, was jemand mitbringt und stimmt die Mitarbeit darauf ab. Das beginnt bei den Lieferungen – wir sind täglich mit fünf Kleintransportern in Wien unterwegs, holen Lebensmittel ab und verteilen sie an soziale Einrichtungen. Einbringen kann man sich aber auch in der bewusstseinsbildenden Arbeit – etwa bei Info-Veranstaltungen in Schulen oder Info-Ständen im öffentlichen Raum – und im Event-Management. Alle bei der Wiener Tafel, vom Fahrer bis zum Vorstand, machen das ehrenamtlich.

Redaktion:
Was hat sich seit der Gründung der Wiener Tafel Ende der 1990er Jahre verändert – vom sozialen Klima her, aber auch der Bereitschaft der Unternehmen, sich einzubringen?

Haiderer:
Die Anfangszeit war sehr steinig, weil wir sehr viel Überzeugungsarbeit leisten mussten, vor allem bei den Unternehmen. CSR (Corporate Social Responsibility, Anm.) gewinnt heute bei größeren Konzernen zunehmend an Gewicht. Wenn hochwertige Produkte sinnvoll verwendet werden, profitiert auch das Image. Hier ist die Wiener Tafel ein strategisch wertvoller und verlässlicher Partner. Mittlerweile sind es die Unternehmen, die an uns herantreten, weil ihnen die Lebensmittel zu kostbar für den Müll sind. Als spendenfinanzierte Organisation merken wir aber, dass die Bereitschaft Geld zu geben, gesunken ist. Immer mehr Menschen sind von Armut betroffen. Neu ist etwa, dass zunehmend auch Familien, wo beide Elternteile erwerbstätig sind, bei uns vorsprechen, weil sie am Ende des Monats das Essen für ihre Kinder nicht mehr bezahlen können.

Redaktion:
Haben Sie sich schon während Ihres Studiums vorgestellt in diesen Bereich zu gehen? Arbeiten Sie in Ihrem Traumjob?
Haiderer: All das, was ich mache, mache ich voller Leidenschaft, weil ich überzeugt bin, dass es sinnstiftend ist und dass ich einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten kann, aber auch für mein eigenes Ego. Also, insofern: Ja!

Redaktion:
Wenn Sie an Ihre Zeit an der Universität zurückdenken, gibt es prägende Erinnerungen?
Haiderer: Die Uni-Proteste 1996/97 haben mein politisches Engagement sicherlich geprägt. Das waren die ersten großen Sparpakete, die auch die Studierenden zu spüren bekommen haben.

Redaktion:
Was konnten Sie aus Ihrem Studium für sich mitnehmen?
Haiderer: Prägend war die Vielfalt – also, dass die Philosophie bewusst zum Reflektieren anregt und dazu, sich unterschiedliche Perspektiven anzuschauen, um sich dann seine eigene Meinung zu bilden. Diese Kultur zu pflegen, ist mir auch in der Anleitung meiner MitarbeiterInnen sehr wichtig. Was mich auch geprägt hat, ist der philosophische Satz von Schopenhauer: "Meine Philosophie hat mir nie etwas eingebracht, aber sie hat mir viel erspart". Man wird damit nicht reich, aber man wird vielleicht gelassener und schafft es, Dinge differenziert zu sehen.

Redaktion:
Haben Sie einen konkreten Ort im Kopf, wenn Sie an die Universität denken?
Haiderer: Den Siegmund-Freud-Park, wo ich in der Wiese gelegen bin und meine Skripten gelesen habe oder mich für die nächsten Lehrveranstaltungen vorbereitet habe. Also, in den Pausen zwischen den Lehrveranstaltungen, wo man das Gehörte sich setzen lassen oder für sich ordnen kann.

Redaktion:
Was raten Sie jungen AbsolventInnen, die sich überlegen wo es beruflich hingehen soll?
Haiderer: Einmal eine Pause zu machen, auf Reisen zu gehen, einen klaren Kopf zu bekommen, sich danach zu entscheiden, was man machen möchte und sich dann dafür einzusetzen, dass man seine Träume verwirklichen kann.

Redaktion:
Pläne für die Zukunft?
Haiderer: Ich habe hunderte Pläne für die Zukunft (lacht). Aber ein inhaltlicher Schwerpunkt geht in die Richtung, Social Entrepreneurs zu unterstützen, also Personen, die eine Idee haben, wie man die Welt gerechter machen könnte. Ich möchte diesen Menschen helfen, aus ihren Ideen und Visionen, die gesellschaftlich, sozial und ökologisch verantwortlich sind, ein funktionierendes Projekt oder sogar eine etablierte Organisation zu machen.

Martin Haiderer (42) ist Obmann und Gründer der Wiener Tafel, Bereichsleiter für Wohnungslosenhilfe und Jugendarbeit bei der Caritas Wien und selbständiger systemischer Berater mit Lehraufträgen an mehreren Fachhochschulen und Universitäten.