Sind Insekten Krebse?

Ob krabbelnd, kriechend oder fliegend: Insekten haben die Welt erobert. Es gibt sie nahezu überall, und das auch noch mit einer Mio. verschiedener Arten. Im neuen Projekt "1KITE" haben sich 50 interdisziplinäre WissenschafterInnen zusammengetan, um diese evolutionäre Erfolgsstory zu enträtseln.

Ziel des interdisziplinären Projekts ist es, die Evolutionsgeschichte der Insekten zu rekonstruieren. Grundlage dafür soll ein evolutionärer Stammbaum dieser Tiergruppe sein, der auf umfangreichen molekulargenetischen Daten beruht. Dazu werden im Rahmen des großangelegten Forschungsprojekts "1KITE" ("1K Insect Transcriptome Evolution") die Transkriptome von 1.000 Insektenarten untersucht.

"Das Transkriptom einer Art umfasst die Gesamtheit aller Gene, die zu einem bestimmten Zeitpunkt transkribiert, das heißt von DNA in RNA übersetzt werden. Es gibt somit Auskunft über einen großen und wichtigen Teil der Erbinformation eines Organismus", erklärt Günther Pass vom Department für Evolutionsbiologie, der gemeinsam mit seinem Team – u.a. im Rahmen von zwei FWF-Projekten – am internationalen Forschungsvorhaben beteiligt ist.

Einzigartiger Datensatz und innovative Analysen


Der im Rahmen von 1KITE erhobene molekulare Datensatz wird sowohl im Umfang als auch in der Qualität der Analyse weit über alle bisherigen Untersuchungen hinausgehen. "Damit wird eine hervorragende Grundlage für die Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte der Insekten zur Verfügung stehen", freut sich Günther Pass schon jetzt.

Warum sind Insekten so erfolgreich?

Die Geschichte der Insekten beginnt vor rund 400 Millionen Jahren und ist eine absolute Erfolgsstory. Sie haben sich aus marinen Vorfahren entwickelt und gehören zu den ersten Tieren, die terrestrische Lebensräume besiedelt haben. "Bereits im Paläozoikum haben Insekten auch den Luftraum erobert, lange bevor die Wirbeltiere in diesen Lebensraum vorgestoßen sind. Im Erdmittelalter ist dann zusammen mit der Evolution der Blütenpflanzen die große Vielfalt der Insekten entstanden", erklärt der Forscher.


Die Doppelschwänze gehören zu den Insekten mit den meisten urtümlichen Körpermerkmalen. Sie sind blinde Bodentiere mit langen Fühlern am Kopf und ebensolchen Fortsätzen am Hinterende des Körpers. (Foto  N. U. Szucsich)



Heute sind Insekten mit rund einer Million beschriebener Arten die mit Abstand artenreichste Tiergruppe. Sie haben – mit Ausnahme des offenen Meeres – alle Lebensräume besiedelt und besitzen eine enorme ökologische Bedeutung in Nahrungsnetzen und Stoffkreisläufen. Wie ist diese enorme Artenvielfalt entstanden und warum sind gerade die Insekten ökologisch so erfolgreich? "Um auf diese elementaren Fragen der Evolutionsbiologie schlüssige Antworten zu finden, ist die Aufklärung des Stammbaums der Insekten eine unabdingbare Voraussetzung", bringt es Günther Pass auf den Punkt.

Die "Ur-Insekten" – bislang noch wenig berücksichtigt

Im Team rund um den Wiener Evolutionsbiologen gehört das besondere Forschungsinteresse den sogenannten Ur-Insekten: "Diese Tiere sind durch zahlreiche ursprüngliche Merkmale gekennzeichnet. So haben sie zum Beispiel keine Flügel und entwickeln sich ohne Metamorphose. Sie gleichen darin den ältesten bekannten Fossilien der Insekten und sind deshalb für unser Verständnis der Evolution der gesamten Tiergruppe besonders wertvoll", erzählt Pass, und fährt fort: "Die heute lebenden Ur-Insekten sind zum großen Teil Bodentiere mit einer verborgenen Lebensweise und haben in der Wissenschaft vergleichsweise wenig Beachtung gefunden."

Die Analyse des phylogenetischen Ursprungs dieser Ur-Insekten ist eine der am schwierigsten zu lösenden Fragen im Rahmen von "1KITE". Nach neuen Untersuchungen sind die Insekten nämlich nicht mit den Tausendfüßern verwandt, sondern stammen von Krebsen ab – "oder noch wahrscheinlicher: Insekten sind eine Teilgruppe der Krebse", nennt der Forscher neue und kontrovers iell diskutierte Erkenntnisse, die im Projekt vertieft analysiert werden. Dabei werden nicht nur Gene sondern auch Körpermerkmale und innere Organe untersucht. Die morphologischen Ergebnisse stellen neben den molekularen Daten und paläontologischen Befunden weitere wichtige Bausteine für eine umfassende Analyse der Evolutionsgeschichte der Insekten dar.

Urtümliche Krebsgruppe als nächste noch lebende Verwandte

In einer soeben veröffentlichten Untersuchung im Journal "Molecular Biology and Evolution", an der die Wiener Forschergruppe mitgearbeitet hat, wurde versucht, die nächsten heute noch lebenden Verwandten der Insekten zu finden. Anhand eines umfangreichen Datensatzes von über 1.800 Genen konnte gezeigt werden, dass die Krebsgruppe Remipedia in ihrer Genausstattung die größten Gemeinsamkeiten mit den Insekten hat. "Die Remipedia wurden erst vor 30 Jahren in Kalksteinhöhlen auf den Bahamas entdeckt", erklärt der Forscher. In diesen Höhlen, die sowohl mit dem Meer als auch mit dem Land verbunden sind, vermischt sich Meer- mit Regenwasser – "sie könnten der erste Zugang der Urahnen der Insekten zum Land gewesen sein", vermutet Pass. (red)


 Multidisziplinäre und internationale Forschungskooperation
Im Projekt "1KITE" arbeiten rund 50 international renommierte ExpertInnen aus den Bereichen Molekulare Biologie, Morphologie, Paläontologie, Taxonomie, Embryologie und Bioinformatik zusammen. Die WissenschafterInnen dieses interdisziplinären Teams kommen aus Australien, China, Deutschland, Japan, Mexiko, Neuseeland, Österreich und den USA. Aus Österreich sind neben MitarbeiterInnen der Universität Wien auch WissenschafterInnen des Wiener Naturhistorischen Museums beteiligt. Federführend bei "1KITE" sind das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn, das Beijing Genomic Institute BGI in Shenzhen (VR China), das die Sequenzierung der Daten übernimmt und mit 5,5 Mio. Euro finanziert, sowie die Rutgers University in New Jersey (USA).
Weitere Informationen



Ao. Univ.- Prof. Dr. Günther Pass ist stellvertretender Leiter des Departments für Evolutionsbiologie und mit seinem Team am internationalen Projekt "1KITE" beteiligt. Die Forschungsarbeiten am Department für Evolutionsbiologie werden im Rahmen von zwei aktuellen FWF-Projekten durchgeführt, die Günther Pass leitet: "Sind die Hexapoden monophyletisch?" (April 2008 bis März 2013, Projektmitarbeiter: Dr. Emiliano Dell'Ampio und Mag. Dr. Nikolaus Szucsich) sowie "Die ältesten Verzweigungen im Stammbaum der Insekten" (Oktober 2011 bis Oktober 2014, ProjektmitarbeiterInnen: Mag. Daniela Bartel und Mag. Alexander Böhm).


Das Paper "Pancrustacean Phylogeny in the Light of New Phylogenomic Data: Support for Remipedia as the Possible Sister Group of Hexapoda" (AutorInnen: Bjoern M. von Reumont, Ronald A. Jenner, Matthew A. Wills, Emiliano Dell'Ampio, Günther Pass, Ingo Ebersberger, Benjamin Meyer, Stefan Koenemann, Thomas M. Iliffe, Alexandros Stamatakis, Oliver Niehuis, Karen Meusemann und Bernhard Misof) erschien im März 2012 im Journal "Molecular Biology an Evolution"