Rituale mit politischer Relevanz

Nach sieben Jahren Übergangsregierung hat Nepal endlich eine neue Verfassung. Warum sich das Land so lange uneinig war und wie traditionelle Rituale plötzlich politische Relevanz erlangten, erklärt Martin Gaenszle vom Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde im Gespräch mit uni:view.

Die einen feiern, die anderen gehen auf die Straße: Nach sieben Jahren Verhandlungen stimmte die verfassungsgebende Versammlung Nepals Ende September für eine säkulare, republikanische Verfassung. Nepals Präsident Ram Baran Yadav stellte ein föderales System mit sieben Bundesländern vor – eine Veränderung, die von Protesten begleitet war. Doch warum herrscht Uneinigkeit in dem Himalaya-Staat?

"Nepal ist ein heterogenes Land mit über hundert verschiedenen Sprachen und fast genauso vielen ethnischen Gruppen. Die nicht-hinduistischen Minoritäten fühlten sich schon während der Hindu-Monarchie der Shah-Dynastie (1768-2008) nicht repräsentiert, und als das Königtum in der Folge einer  breiten Volksbewegung abgeschafft wurde, flammte die Hoffnung auf mehr Rechte und eigene Bundesländer auf. Es wurde viel diskutiert und lange nach einem Konsens gesucht – vergeblich", erklärt Martin Gaenszle von der Universität Wien. Nepal hat zwar eine neue Verfassung, aber die Frage nach den genauen und endgültigen Grenzen der neuen Bundesländer wurde vorerst ausgeklammert.

Traditionen und orale Überlieferungen


Martin Gaenszle, Ethnologe und Professor für Kultur- und Geistesgeschichte des neuzeitlichen Südasien, verfolgt die aktuelle politische Situation in Kathmandu derzeit aus der Ferne: "Meine heuer im August geplante Forschungsreise im Rahmen unseres aktuellen FWF-Projekts zu Ritual, Raum und Mimesis bei den Rai in Ostnepal musste ich aufgrund des schweren Erdbebens verschieben."

Eine Gruppe von Rai tanzt den "sakela" auf dem für die Rai historisch bedeutsamen Berg Tuwachung in Ostnepal. (Foto: Alban von Stockhausen)


In dem fünfjährigen Projekt, das noch bis Ende September 2016 läuft, beschäftigen der Südasienforscher und sein Team sich mit Raumkonzeptionen und rituellen Praktiken der Kirantis, einer ethnischen Minderheit in Ostnepal. Für die Kirantis sei die neue Verfassung Nepals kein Grund zu feiern, so Gaenszle: "Sie sehen sich als die indigene Bevölkerung, auch wenn inzwischen in der Region viele andere Volksgruppen ansässig sind. Da es nun neue Provinzgrenzen geben soll, die nicht nur das traditionelle Siedlungsgebiet der Kiranti, sondern auch das Tarai (die Ebene) mit einschließen soll, herrscht die Angst, weiterhin als statistische Minorität in dem neuen Bundesland marginalisiert zu sein", erklärt er. "Die Menschen berufen sich daher auf ihre Traditionen und die oralen Überlieferungen, um ihre auf Jahrhunderte zurückgehende Präsenz in der Region zu belegen."

Kulturelle Praktiken – politische Relevanz?

Traditionen und die orale Überlieferungen stehen auch im Mittelpunkt des Forschungsprojekts von Martin Gaenszle, das in Zeiten der Grenzziehung und der Verfassungsdebatte plötzlich auch mit Politik zu tun hat: "Die Kirantis beziehen sich in ihren Ritualen auf Orte, die mit den Ahnen assoziiert werden; darin stecken auch politische Ansprüche."

Der Schamane Ram Kumar Rai führt im ostnepalesischen Dorf Halkum ein nächtliches Heilungsritual Cinta durch, das von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen dauert (Fünf Min. Zusammenschnitt verschiedener Ritualsequenzen, gefilmt mit Infrarotkamera, Alban von Stockhausen)


Alban von Stockhausen, Projektmitarbeiter und seit 2015 auch Kurator am Bernischen Historischen Museum, untersucht schamanische Gesänge und die Raumkonzeptionen, die sich darin niederschlagen. "Kiranti-Priester und Schamanen gehen in den Heilungsritualen auf imaginäre Reisen und durchqueren dabei nahe und ferne Regionen. Das Interessante dabei: Es sind Gebiete, die real existieren. Es werden Ortsnamen aufgezählt, die es tatsächlich gibt. Auf diese Weise erfahren wir, welche Orte für die Kirantis traditionell bedeutsam waren und wo sie sich niedergelassen haben", erklärt Alban von Stockhausen näher.

Tanzen als mimetische Identifikation

Projektmitarbeiterin Marion Wettstein hat die traditionellen Tänze der Kirantis analysiert und die Bewegungsabläufe fotografisch festgehalten. "Die komplizierten Tanzschritte sind nur verständlich, wenn man die mythologischen Hintergründe kennt. Durch den Tanz erfolgt eine mimetische Identifikation mit den Ahnenwesen, welche die kulturellen Praktiken erfunden haben", so Wettstein.

Die Tänzerin Laxmi Rai aus dem ostnepalesischen Dorf Rudalung stellt, durch nachträglich ergänzte Pfeile verdeutlicht, die Tanzsequenz "Gras schneiden" vor. (Foto und Montage: Marion Wettstein)


Wenig bekannt, kaum erforscht

Viel weiß man nicht über die Kirantis: Noch immer ist es schwierig, das Himalaya-Volk zu erreichen, da es in den Bergregionen wenig Straßen gibt. Mit kleinen Fliegern erreicht man Lokalflughäfen, von dort sind die Dörfer meist nur über einen mehrtägigen Fußmarsch zu erreichen. Die Kirantis sprechen eine Vielzahl von Sprachen, die vom Aussterben bedroht sind. "Es handelt sich beim Kiranti um eine eigene Sprachfamilie innerhalb des Tibeto-Birmanischen. Deren linguistische Verwandtschaft mit Sprachen in Nordostindien und China ist immer noch weitgehend ungeklärt und Gegenstand der Forschung", erklärt Martin Gaenszle, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Linguistische Anthropologie Südasiens zählt. Und sie haben eine eigene Religion, die seit 1991 offiziell als Kategorie des Zensus anerkannt ist. Kirat, so nennt sich die Religion, ist nach Hinduismus, Buddhismus und Islam die viertgrößte Glaubensgemeinschaft Nepals, außerhalb der Staatsgrenzen jedoch kaum bekannt.

Was macht die Kiranti-Kultur aus? Diese Frage beschäftigt Martin Gaenszle schon länger: "In den 80er Jahren lebte ich mit den Mewahang Rai, einer Untergruppe der Kirantis, zusammen und betrieb Feldforschung. Mich interessierten die Mythen der Gruppe. Seither dokumentiere und analysiere ich die orale Tradition auch anderer Kiranti-Gruppen: Ursprungsmythen, Migrationslegenden und komplexe Rituale, die auf mündlicher Überlieferung basieren." (Foto: Chintang and Puma Documentation Project)


Mittlerweile gibt es eine Dachorganisation in Kathmandu, um die Interessen der Minoritäten zu vertreten, ihre Überlieferungen zu verschriftlichen und bekannt zu machen: die Kirat Rai Yayokkha. Gaenszle und sein Team arbeiten eng mit der Institution zusammen, denn: "Die Publikationen von Kirat Rai Yayokkha sind eine wichtige Quelle für uns. Die Repräsentanten der Kultur selbst beschreiben ihre Praktiken von innen heraus."

Die Forschungsplattform "Center for Interdisciplinary Research and Documentation of Inner and South Asian Cultural History" der Universität Wien wurde im Januar 2006 von Kunsthistorikerin Deborah Klimburg-Salter gegründet. Martin Gaenszle übernahm 2015 die Leitung der interfakultären Einheit für innovative Forschung. Ziel der Einrichtung ist es, die Entwicklung neuer, transdisziplinärer Forschungsmodelle zu unterstützen und den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern.


Digitalisieren, archivieren und öffentlich zugänglich machen

Diese schriftlichen Dokumente, aber auch Fotografien, Audio- und Videoaufnahmen, die das ForscherInnenteam um Gaenszle gesammelt hat, werden im CIRDIS an der Universität Wien digitalisiert, archiviert und öffentlich zugänglich gemacht. Ziel ist es dabei, das bisher vorwiegend kunsthistorische Bildarchiv um ethnographische Sammlungen in einem Multimedia-Archiv zu erweitern. Die WissenschafterInnen vom Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde bringen mit ihrem Projekt nicht nur Licht in die wenig erforschten Traditionen der Kirantis, sondern rekonstruieren und bewahren mit ihrer ethnographischen Arbeit auch ein Stück Kulturgeschichte. (hm)

Das FWF-Projekt "Ritual, Raum, Mimesis bei den Rai in Ostnepal" unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Martin Gaenszle und der Mitarbeit von Dr. Marion Wettstein, Dr. Alban von Stockhausen läuft vom 01.10.2011 - 30.09.2016 und ist am Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt.