Nach der Schule ans Krankenbett

In Österreich pflegen rund 40.000 Kinder ein krankes Familienmitglied, aber die wenigsten sprechen darüber. Martin Nagl-Cupal vom Institut für Pflegewissenschaft beschäftigt sich in seiner Forschung mit der oftmals verborgenen Pflege durch Kinder und entwickelt Unterstützungsmaßnahmen für Betroffene.

Jana kommt von der Schule nach Hause und schiebt den Rucksack in die Ecke. Ihr Bruder wartet auf das Mittagessen, der chronisch kranke Vater auf seine Medikamente, der Kühlschrank ist leer. Für die 13-Jährige ganz normal – überfordernd und auf Dauer belastend, zeigen aktuelle Forschungsergebnisse.

Pflegearbeit wirkt sich körperlich und mental auf Kinder aus, ihre schulischen Leistungen leiden langfristig unter den häuslichen Verpflichtungen. Auch im Erwachsenenalter hinterlässt die Vergangenheit Spuren: Ehemalige pflegende Kinder und Jugendliche arbeiten häufiger in sozialen oder pflegerischen Berufen, in Beziehungen agieren sie oftmals fürsorglich und aufopfernd. 

Gemeinsam forschen

"Wenn Kinder mehr helfen, als ihnen altersentsprechend gut tut und sie ihre Individualität nicht ausleben können, wird die familiäre Pflege zum Problem", erklärt Martin Nagl-Cupal vom Institut für Pflegewissenschaft. Er beschäftigt sich bereits seit 2013 mit dem Phänomen der pflegenden Kinder und ist in dem aktuellen Projekt "ResilCare" federführend. Gemeinsam mit seinem Team nimmt er eine Bestandsaufnahme pflegender Kinder vor, untersucht Auswirkungen und entwickelt Hilfspakete für betroffene Familien.

Pflegende Kinder in Österreich

Kinder und Jugendliche, die regelmäßig an der Pflege und Betreuung eines chronisch kranken Familienmitgliedes beteiligt sind, werden in der Forschung Young Carers genannt. In Österreich sind das 3,5 Prozent aller Minderjährigen, also rund 40.000 Kinder und Jugendliche. Nagl-Cupal und sein Team haben vor vier Jahren im Zuge einer breit angelegten Prävalenzstudie erstmals die Anzahl der Young Carers in Österreich erhoben – und für mediale Aufmerksamkeit gesorgt: "Die Öffentlichkeit hat diese hohe Zahl überrascht, uns nicht. Im internationalen Vergleich bewegt sich Österreich im unteren Mittelfeld", weiß der Pflegewissenschafter.

Ein Problem im Verborgenen

"Wir alle kennen vermutlich Young Carers, wissen es aber in den seltensten Fällen", so Nagl-Cupal: "Das Problem schwelt unter der Oberfläche und nur wenige sprechen über ihre Belastungen." Gründe dafür gibt es viele: Die Mehrheit der pflegenden Kinder definiert sich nicht als solche, sondern nimmt die Betreuung eines kranken Familienmitgliedes als selbstverständlich wahr. Hinzu kommt, dass das Phänomen der kindlichen Pflege gesellschaftlich stigmatisiert ist, betroffene Personen vertrauen sich nur selten außenstehenden Personen an.

Helfen – aber wem?


Das erschwert die Kontaktaufnahme zu Familien mit pflegenden Kindern. Nagl-Cupal und sein engagiertes Forschungsteam suchen dort, wo Young Carers potenziell anzutreffen sind: Sie gehen in Schulen und Jugendzentren, sprechen mit Menschen in Krankenhäusern, kontaktieren ambulante Dienste und rufen in Zeitungen sowie über elektronische Infoscreens in Wohnbauten zur Teilnahme an Interviews auf.

Von großen Surveys bis zu Familieninterviews: "In der Young Carers-Forschung schöpfen wir den ganzen sozialwissenschaftlichen Methodenkanon aus", so Nagl-Cupal. Herausfinden möchten die ForscherInnen, wie Familien mit pflegenden Kindern ihren Alltag bewerkstelligen und welche Bedürfnisse sie haben. Das Genogram (s. Bild) ist ein Tool, das ihnen dabei hilft: Unterstützungsnetzwerke werden visualisiert und liefern erzählerische Anknüpfungspunkte. (Foto: Universität Wien)

Die schützende Zutat

"Die Folgen im Erwachsenenalter sind nicht immer negativ, können aber negativ sein", gibt Nagl-Cupal zu Bedenken. Er sucht in seinem Projekt u.a. nach Resilienzfaktoren, die schützende Zutat also, die Kinder trotz Mehrfachbelastung gesund hält: "Es steht und fällt mit Netzwerken – Schule, Vereine und natürlich die Familie. Wenn kranke Eltern ihren elterlichen Aufgaben nachkommen können, die Krankheit also nicht im Vordergrund steht, verkraften Kinder die heimische Pflege besser."

Ein Unterstützungspaket aus der Wissenschaft


Aufbauend auf diesen Untersuchungsergebnissen haben die ForscherInnen ein konkretes Unterstützungsprojekt auf die Beine gestellt, das bereits mit Praxispartnern der ambulanten Pflege in einer Pilot-Testung umgesetzt wird. Das Unterstützungspaket richtet sich an Familien mit pflegenden Kindern und unterstützt sie dabei, ihren individuellen Hilfsbedarf selbst zu formulieren. Auf diese Weise können Familien autonom Entscheidungen über notwendige Maßnahmen treffen und mit professioneller Unterstützung an Lösungen arbeiten. "Familien können wir langfristig nur helfen, wenn sie lernen, sich selbst zu helfen", erklärt Nagl-Cupal.

Das Projekt "ResilCare" unter der Leitung von Martin Nagl-Cupal ist ein good practice-Beispiel für die Third Mission-Aktivitäten der Universität Wien: Wissenschaft und Gesellschaft werden vernetzt. Mehr Informationen zu den Third Mission-Aktivitäten der Universität Wien. (Grafik: Universität Wien)

Für Martin Nagl-Cupal, gelernter Krankenpfleger und seit 2010 Pflegewissenschafter an der Universität Wien, ist die Forschung zu Young Carers aber nicht nur Berufs-, sondern auch Herzensangelegenheit: "Wir tragen unsere Ergebnisse aus der Forschung in die Gesellschaft hinaus und können uns so konkret an der Lösung eines sozialen Problems beteiligen – das ist mein Ansporn weiterzumachen." (hm)  

In dem Projekt "ResilCare" forschen unter der Leitung von Mag. Dr. Martin Nagl-Cupal vom Institut für Pflegewissenschaft der Fakultät für Sozialwissenschaften Univ.-Prof. Mag. Dr. Hanna Mayer, Dipl.-Pflegepädagogin (FH) Julia Hauprich, MA, Mag. Martin Matzka und Natasa Prajo, BSc MSc. Das Projektteam kooperiert mit dem Roten Kreuz, Die Johanniter, Superhands und dem Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz und wird gefördert von "Mitteln gemeinsamer Gesundheitsziele aus dem Rahmen-Pharmavertrag – Eine Kooperation von Öst. Pharmawirtschaft und Sozialversicherung".