Multikulti. Von Österreich-Ungarn nach Amerika

Im späten 19. Jahrhundert lebten in Wien rund 4.000 südslavisch-sprachige Personen – dennoch gab es keine mediale Öffentlichkeit in diesen Sprachen. Warum das so war? Diese Frage hat der Historiker Wladimir Fischer bis in die USA verfolgt und dabei interessante Ergebnisse zu Tage gebracht.

"Ich wollte ursprünglich die Geschichte der MigrantInnen in Wien um 1900 beschreiben. Jedoch nicht jene der berühmten EinwandererInnen aus Böhmen und Niederösterreich, aus denen sich die Stadt Wien im Grunde in ihrer Gesamtheit zusammengesetzt hat, sondern jene der Menschen aus den südöstlichen Provinzen der Habsburger Monarchie – die sogenannten minoritären MigrantInnen", erläutert Wladimir Fischer vom Institut für Geschichte die Anfänge seines Projekts.

Es waren vor allem Kaufleute, Beamte, Wissenschafter und Studierende, die seit dem späten 18. Jh. aus den südslavisch-sprachigen Gegenden in Wien präsent waren. Im Laufe des 19. Jh. kamen noch slovenische und kroatische ArbeiterInnen hinzu, die vorwiegend zwischen Wien und der Steiermark bzw. dem heutigen Burgenland migrierten. Es waren zusammen nur ein paar Tausend – darunter aber vor allem gebildete Personen. "Daher hat es mich sehr verwundert, keine südslavische mediale Öffentlichkeit vorzufinden", erzählt der Historiker. "Die Tatsache, dass in dieser Zeit – laut Statistiken der Universität Wien – die Zahl kroatischer, slovenischer und serbischer Studierender massiv anstieg, ließe ja eigentlich anderes vermuten." Überrascht hat ihn vor allem, dass serbische Zeitungen – die es noch bis in die 1860er Jahre in Wien gegeben hat – plötzlich verschwunden sind und nur noch kleinere slovenische Spezialblätter existierten.


Wie haben minoritäre MigrantInnen im Wien des 19. Jh. gelebt? Fischer hat die Kirchenbücher zu Rate gezogen. Darin finden sich personenbezogene Daten wie Geburt, Anzahl der Kinder, Herkunft usw. Über die Eingabe aller biographischen Daten in eine eigens für das Projekt programmierte Datenbank zeigen sich dem Historiker  Netzwerkbeziehungen zwischen Personen: "So erfahren wir u.a. etwas über die Qualität der sozialen Beziehungen, Verwandtschaftsgrade und Geschäftsbeziehungen." (Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv).



Schlüsselfaktor Politisches Mandat


Zurück zur Frage, warum die südslavische Öffentlichkeit in Wien "kleiner" wurde: Die ersten serbischen Zeitungen sind bereits Ende des 18. Jh. in Wien erschienen – dann aber in andere Zentren abgewandert, u.a. nach Belgrad, die Hauptstadt des 1815 neu gegründeten Fürstentums Serbien. Die Revolution von 1848 löste zwar einen Schub in der Medienentwicklung in ganz Europa aus. Aber die regelmäßig erscheinenden südslavischen Medien entstanden nun dort, wo die revolutionären Ereignisse stattfanden: in Kroatien, Istrien, Dalmatien – oder Südungarn, wo die Militärgrenze verlief. Bis in die 60er Jahre gab es noch Magazine und Studentenblätter auf serbisch in Wien. Das hörte auf.

"In den 1860er Jahren wurden die letzten serbischen Zeitungen in Wien gedruckt. Einerseits konnten die Südslaven aufgrund des guten Postsystems die Zeitungen auch in Wien beziehen, andrerseits war Wien für viele nicht mehr die Hauptstadt", erklärt Fischer. Das hatte politische Gründe – die Slovenen waren mittlerweile durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 die einzigen Südslaven mit einem politischen Mandat in Wien. "Ein solches ist aber entscheidend dafür, ob und wie MigrantInnen ihre Medien oder ihre Öffentlichkeit in einem Land gestalten – damals wie heute", bringt der Historiker ein Forschungsergebnis auf den Punkt.


Rund um den Fleischmarkt in Wien entstand um 1700 das "Griechenviertel", wo sich hauptsächlich orthodoxe Kaufleute aus dem Osmanischen Reich niederließen. Das Griechenviertel entwickelte sich rund um die orthodoxen Kirchen für osmanische Untertanen einerseits und habsburgische Untertanen andererseits. Hier laufen viele Fäden aus Wladimir Fischers Nachforschungen zusammen:  Ein großer Teil der in Wien wohnenden Serben gehörte einer dieser Kirchengemeinde an. (Im Bild: Fleischmarkt, 1770-1773, J. A. Nagel).



Identitätsprojekt Österreich

Das Entstehen der ersten südslavischen Zeitungen ging mit dem Beginn des "Nationalen Denkens" einher. Ethnische Identitäten entwickelten sich jedoch erst im späten 19. Jh. – und Wien war ein Brennpunkt dafür. "Ich spreche bewusst nicht von einem Vorläufer der Nationalbewegung mit dem Ziel 'Nationalstaat', sondern von nationalen Identitätsprojekten, die eigentlich nie richtig abgeschlossen werden", beschreibt Fischer seinen Ansatz: Er versucht, diese "Projekte" aus der Zeit heraus darzustellen. "Im Fall der Südslaven ist es besonders deutlich, aber auch Österreich selbst bastelt ständig an diesem Identitätsprojekt und passt es immer wieder an." In seiner Forschungsarbeit geht der Historiker der Frage nach, wie solche Identitätsprojekte entstehen – dafür hat er seine Recherchen bis in die USA ausgeweitet.

"Monarchische" Eigenheiten in den USA

Am Zentrum für Migrationsgeschichte in Minneapolis hat Fischer Nachlässe von MigrantInnen, die von Österreich-Ungarn nach Amerika ausgewandert sind, analysiert. "Ich habe mich speziell auf Identitätsprojekte und Identitätsmanager konzentriert, die in den USA innerhalb kurzer Zeit eine sehr ausgefeilte Zeitungslandschaft aus dem Boden gestampft haben."


In den Staaten gab es eine große slovenische, kroatische und serbische Öffentlichkeit. Anders als in Wien wurden die Zeitungen hier nicht importiert, sondern vor Ort produziert. "Diese blühende Medienlandschaft hat mich überrascht", so Fischer. Dabei reichen die Themen von – beispielsweise – der Hochzeit einer aus Split stammenden Familie über den Krieg mit Spanien bis hin zum Wetterbericht in Dalmatien. (Foto: "Napredak" bedeutet Fortschritt und ist eine kroatische Zeitung aus Pittsburgh, Pennsylvania, 1896–1908).



"Die Presse der südslavischen MigrantInnen in den USA war im Grunde eine österreich-ungarische Presse in Verbindung mit dem Migrations-Aspekt", erzählt Fischer und ergänzt: "Die Frage der Selbstidentifikation von Menschen, die von einer multinationalen Situation in eine andere kommen, ist dabei besonders spannend." Interessant ist auch, dass die südlsavischen MigrantInnen in den USA aus anderen Gebieten stammen als jene in Wien: Es war die klassische rurale Bevölkerung aus den dalmatischen Küstenregionen, die in den USA Geld verdienen und wieder nach Österreich-Ungarn zurückkehren wollte. "Der erste Weltkrieg durchkreuzte diese Pläne, und viele blieben in den USA 'hängen'", so der Historiker. Eine Art Exklave war entstanden, in der teilweise die kulturellen Eigenheiten aus der Monarchie auch nach 1918 beibehalten wurden.

Die Wurzeln des Multikulturalismus

Eine dieser "Eigenheiten" ist die Kooperation zwischen den verschiedenen Nationalitäten. So ging auch die Vorstellung des multinationalen Staates in den USA nicht zuletzt von aus der Habsburger Monarchie migrierten Intellektuellen aus. "Verschiedene Nationalitäten sollen zusammen arbeiten und als gleichwertig betrachtet werden", so die Verfechter des multikulturellen Selbstverständnisses, das in den vergangenen zehn Jahren wieder viel diskutiert worden ist. Fischers Resümee: "Die Ströme des Wissens und der Menschen waren und sind zirkulär." (ps)

Das FWF-Projekt "Difference and the City: Minoritäre MigrantInnen Wiens 1900" lief von 1. Juli 2007 bis 30. Juni 2013 unter der Leitung von Mag. Dr. Wladimir Fischer vom Institut für Geschichte. Programmierung der Datenbank: Mag. Martin Gasteiner, Institut für Geschichte der Universität Wien. Kooperation bei Forschung in Minneapolis: Dr. Annemarie Steidl, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Prof. James Oberly, History Department, University of Wisconsin, Prof. Gary Cohen, Center for Austrian Studies und Prof. Donna Gabaccia, Immigration History Research Center, beide University of Minnesota, Minneapolis.