"Möchte ich das Kind bekommen?"

Ein auffälliger Befund bei pränatalen Untersuchungen stellt Eltern vor eine schwierige Entscheidung. Forscherinnen des Fachbereichs Theologische Ethik der Universität Wien haben eine Broschüre mit Empfehlungen für ÄrztInnen erstellt, um Betroffene bestmöglich beraten und unterstützen zu können.

Pränataldiagnostische Untersuchungen wie Organscreening, Nackenfaltenmessung und Fruchtwasserpunktion gelten in der Schwangerschaft nicht als verpflichtend und werden auch nicht von der Krankenkasse bezahlt. Viele werdende Eltern nutzen allerdings diese Zusatzangebote, da sie ihnen die Möglichkeit bieten, bei Problemen reagieren zu können. Dabei kommen in Österreich aktuell nur rund drei Prozent* aller Kinder mit einer Krankheit oder Behinderung zur Welt.

Frauen fühlen sich mit Diagnose allein gelassen

"Wenn bei den Untersuchungen alles in Ordnung ist, freuen sich die Eltern natürlich, auch wenn es keine 100-prozentige Sicherheit gibt, dass das Kind gesund zur Welt kommt. Treten allerdings Probleme auf, ist das für die Betroffenen meist ein großer Schock", erklärt Melanie Novak vom Institut für Systematische Theologie und Ethik. Seit 2014 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt im Fachbereich Theologische Ethik, das von Sigrid Müller, Dekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät, geleitet wird, und sich genau mit dieser schwierigen Situation beschäftigt.

"Die Erfahrungsberichte der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich viele Frauen und ihre PartnerInnen nach einer auffälligen Diagnose alleine gelassen fühlen, wenn es darum geht, sich für oder gegen das Kind zu entscheiden. Hier besteht eindeutig Verbesserungsbedarf", so Novak. Die Forscherinnen haben deshalb eine Broschüre für ÄrztInnen erarbeitet, die alle wichtigen Empfehlungen für einen interdisziplinären Betreuungsprozess im Kontext von pränataler Diagnostik zusammenfasst – von der Erstuntersuchung bis zum Entschluss zur Fortsetzung bzw. zum Abbruch der Schwangerschaft und danach.

Broschüre "Empfehlung für einen interdisziplinären Betreuungsprozess im Kontext von pränataler Diagnostik". Hg. von Sigrid Müller, Melanie Novak, Daniela Grössinger, Wien 2017. (zum PDF)

Umfassende Information

Die digitale Publikation ist aber mehr als eine bloße Aneinanderreihung verschiedener Handlungsoptionen. Sie zeigt nicht nur unterschiedliche Entscheidungsmöglichkeiten auf, sondern informiert auch umfassend über deren Konsequenzen. Außerdem benennt und erläutert sie die Tätigkeits- und Verantwortungsbereiche aller Berufsgruppen, die im Zusammenhang mit dem Beratungsprozess und der medizinischen Betreuung betroffener Eltern eine wesentliche Rolle spielen können.

"Unser Ziel ist es, die Vernetzung der Berufsgruppen zu fördern und so die Qualität der Betreuung in aller Breite zu gewährleisten. Dadurch sollen die Frauen und Paare im Sinne der PatientInnenautonomie noch besser dabei unterstützt werden, eine selbstbestimmte und langfristig tragbare Entscheidung zu treffen", betont Novak: "Aus diesem Grund wird in der Broschüre die optionale Unterstützung durch speziell geschulte Hebammen, psychosoziale BeraterInnen, Klinische PsychologInnen und Klinische SeelsorgerInnen an den jeweiligen Schnittstellen zur medizinischen Betreuung angeführt und sichtbar gemacht."

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage

Interessante Einflussfaktoren

Als wissenschaftliche Grundlage für die Erstellung der Broschüre diente ein Teil der Dissertation von Melanie Novak, in dem sich die Nachwuchswissenschafterin mit den konkreten Faktoren auseinandersetzt, die nach einem auffallenden Befund die Entscheidung der Eltern beeinflussen können. "Wenn ich weiß, was in dieser Situation besonders wichtig ist, kann ich auch schauen, dass es im Beratungsangebot entsprechend berücksichtigt wird", meint Novak, die dafür mehrere Fälle in Österreich genauer unter die Lupe genommen hat.

Ihr Ergebnis: Von insgesamt 18 gefundenen Einflussfaktoren haben sich vier als besonders gewichtig herausgestellt: die eigenen personalen Ressourcen (Intuition, Glaube, Gefühle, Wertvorstellungen etc.), der/die PartnerIn (oft wird gemeinsam entschieden), die behandelnden ÄrztInnen sowie Angebote an nicht-medizinischer Beratung (z.B. Hebammen, SeelsorgerInnen, psychosoziale Beratungsstellen). Andere Aspekte wie die finanzielle Situation werden von den Frauen hingegen als eher nebensächlich betrachtet. "Es ist wichtig zu verstehen, dass wir es hier mit einem sehr komplexen und individuellen Entscheidungsprozess zu tun haben. Man kann nicht sagen, dieser oder jener Faktor sei zentral, weil es jede Frau anders sehen kann", merkt Novak an.

Verteilung an ÄrztInnen

Die Analysedaten zu den Einflussfaktoren diskutierten die Projektmitarbeiterinnen der Universität Wien anschließend ausgiebig mit einer Gruppe interdisziplinärer ExpertInnen aus unterschiedlichen Berufsgruppen und Bundesländern. "Wir haben uns regelmäßig getroffen und gemeinsam Empfehlungen für eine optimale Betreuung entwickelt", schildert Novak. Diese sollen nun schnellstmöglich an ÄrztInnen verteilt und weiterverbreitet werden. "Das Feedback von den MedizinerInnen ist sehr gut. Natürlich können sich aber alle Interessierten die Broschüre auch auf unserer Website runterladen", so Novak. (ms)

uni:view: Frau Novak, wie beantworten Sie unsere aktuelle Semesterfrage "Gesundheit aus dem Labor – Was ist möglich?"
Melanie Novak: Selbstverständlich stellen sich werdende Eltern die Frage, ob ihr Kind gesund ist. Pränataldiagnostik erlaubt einen Einblick in den Entwicklungs- und Gesundheitszustandes des Kindes und kann zur Beruhigung der Eltern beitragen, sofern keine Auffälligkeiten entdeckt werden. Eine Garantie für die Gesundheit des Kindes kann sie aber nicht leisten. Zum einen werden nicht alle Behinderungen bei den pränatalen Tests erkannt, zum anderen entsteht der Großteil der Behinderungen erst im Laufe des Lebens. Gesundheit ist kein durch Pränataldiagnostik herstellbares Gut. Bei einem auffälligen Befund, stellt sich oftmals aufgrund mangelnder Therapiemöglichkeiten die Frage nach der Fortsetzung oder dem Abbruch der Schwangerschaft. Werdende Eltern müssen dann eine schwierige ethische Entscheidung treffen und sich u.a. fragen, welche Bedeutung für sie Gesundheit hat und welche Werte sie vertreten möchten. In dieser Situation bedarf es professioneller und interdisziplinärer Unterstützung, damit sie eine Entscheidung treffen können, mit der sie langfristig leben können.

Das Projekt "Beratung und Begleitung im Kontext pränataler Diagnostik (PND)" unter Leitung von Univ.-Prof. Dr. Sigrid Müller, Dekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät und stellvertretende Leiterin des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin, läuft von September 2014 bis September 2017. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen sind Mag. Melanie Novak und Daniela Grössinger BA. Kooperationspartner ist das Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Medizinischen Universität Wien.

* Broschüre "Pränataldiagnostik. Spezielle vorgeburtliche Untersuchungen" (2015), hg. vom Bundesministerium für Familien und Jugend, S.9.

LESETIPP zum Thema: Wer mehr über die Hintergründe des Forschungsprojektes lesen möchte: In Kürze erscheinen Beiträge von MedizinerInnen und WissenschafterInnen der Universität Wien zu diesem Thema im Facultas-Verlag: Sigrid Müller/Piotr Jan Morciniec (Hg.): Pränataldiagnostik. Anregungen zum Weiterdenken, Wien 2017.