Meteorologie: Österreichs geheimer Kältepol

Bei minus 38 Grad würde Österreich vermutlich stillstehen. Für den Meteorologen Manfred Dorninger ist dieser Kältegrad hingegen Alltag, um nicht zu sagen: fast schon eine Enttäuschung. Denn alle drei Monate besucht er Österreichs geheimen Kältepol, wo schon ganz andere Tiefstwerte gemessen wurden.

"Es war unglaublich anstrengend. Wir waren mehr als zehn Stunden mit Schneeschuhen unterwegs, wobei der Aufstieg allein etwa dreieinhalb Stunden gedauert hat. Wir sind immer wieder abgerutscht, weil über hartem Schnee noch rund 15 bis 20 Zentimeter Pulverschnee lagen", beschreibt Manfred Dorninger vom Institut für Meteorologie und Geophysik seinen letzten Forschungstrip. Aber weder zum Südpol noch auf den K2: Die in MeteorologInnenkreisen legendäre Doline, die Dorninger untersucht, liegt auf lediglich 1.270 Metern Seehöhe in den steirisch-niederösterreichischen Kalkalpen und ist dennoch ein lebensfeindlicher Ort, wie es hierzulande nur sehr wenige gibt.

Rekord: minus 52 Grad

Das Jahr 1929 ist für Dorninger und seine KollegInnen ein magisches Datum. Im damaligen Winter purzelten im ganzen Land die Temperaturen ins Bodenlose. Rekord für bewohnte Regionen ist – bis heute – Zwettl im Waldviertel mit minus 36,6 Grad. Damals zeigten die Messgeräte in der sagenumwobenen Doline erstmals unter minus 45 Grad an. Im Winter 1932 ging es sogar noch tiefer: bis minus 52,6 Grad Celsius. Ein tieferer Wert wurde in Österreich selbst im gesamten Alpenraum nie wieder gemessen. Dorningers "personal best" sind jene minus 47 Grad am Heiligabend im Jahr 2003, kurz bevor die Elektronik der Messgeräte versagt hatte: "Sonst wäre hier sicher noch mehr drinnen gewesen."


Manfred Dorninger beim Aufstieg zur Doline: Bei minus 16 Grad gefriert die Atemluft auf Bart- und Haupthaaren zu Eis – "denn noch bin ich nicht so ergraut", schmunzelt er.



Mit seiner Langzeitstudie will der Meteorologe u.a. herausfinden, ob die tiefen Temperaturen der Zwischenkriegszeit noch erreicht werden: bis jetzt nicht. "Vor allem aber wollen wir die physikalischen Vorgänge verstehen, die zu den dermaßen tiefen Temperaturen führen." Ausgestattet ist die schwer zugängliche Messstelle mit einem vier Meter langen Mast in der Doline sowie drei Temperatursensoren im Abstand von einem Meter. Am Dolinenrand steht ein Drei-Meter-Mast mit einem Temperaturfühler: die sogenannte "Hintergrundstation". Hier wird seit zehn Jahren Tag und Nacht, Sommer wie Winter, gemessen, wie weit die Grade rauf- und runterklettern.

Angewandte Lehre

Zusätzlich führt der Meteorologe in gewissen Zeitabständen spezielle Messkampagnen durch – die er gleich für die angewandte Lehre nutzt: "Das schaut so aus, dass wir mit bis zu 15 Studierenden in der besagten Doline 'die Nacht durchmachen' – oder vielmehr 'durchmessen'", erzählt er. Dazu werden etwa 30 Wetterstationen in und am Rand der Doline aufgestellt sowie Fesselballonsonden, SODAR und Energiebilanzmessstationen eingesetzt – ein enormer Aufwand an Material.

Dafür müssen sich die Studierenden auch im Sommer warm einpacken: "An einem Morgen im Juni haben wir die Doline bei minus sieben Grad verlassen und sind bei plus 35 Grad in Wien angekommen – quasi vom Winter in den Hochsommer hinein", erinnert sich Dorninger schmunzelnd.

"Gefrierpfannen"

Dolinen sind der perfekte Ort für sogenannte Kaltluftseen – und damit Rekordtiefstwerte. Besonders dann, wenn ihr Aussehen einer Bratpfanne ähnelt. "Einer flachen Bratpfanne", präzisiert Dorninger. Ist der Dolinenboden zu tief, kann die Dolinenluft nicht frei in den Weltraum abstrahlen, denn die Himmelssicht darf nicht zu beschränkt sein. Je höher die Lage der Doline und je länger die Nacht, desto tiefer die Minusgrade. "Und wenn dann noch sehr trockene Arktikluft einfließt, Windstille herrscht und sich aufgrund der sehr trockenen Luft kein Nebel bildet, dann ist punkto Abkühlung eigentlich alles möglich", nennt der Meteorologe weitere günstige Bedingungen für besonders tiefe Temperaturen.

Denn die Doline kühlt die Luft selbst ab, und wegen der Bratpfannenform gibt es auch keinen Luftaustausch – "weil es keinen Ausgang gibt, wo die kalte Luft abfließen könnte", so der Forscher, der diese Ergebnisse vor kurzem gemeinsam mit KollegInnen im "Journal of Applied MeteorologyandClimatology" publizierte: "Und es sollte Schnee liegen, denn der strahlt extrem stark ab."

Neue Messstation entwickelt

So wichtig für die tiefen Temperaturen, so lästig ist der Schnee beim Messen derselben: Immer wieder müssen die ForscherInnen in der Eiseskälte die Datenlogger der Messsensoren ausgraben. Das soll nun bald ein Ende haben. Manfred Dorninger hat ein neues System entwickelt, das selbständig den Abstand zur Schneedecke misst und sich den verändernden Schneehöhen anpasst.


"Steigt der Schnee zu hoch, wird die komplette Station über einen akkubetriebenen Motor nach oben gezogen und ein Einschneien der Sensoren verhindert", erklärt Erfinder Manfred Dorninger.



Zurzeit steht der neue "METLIFT", der in Kooperation mit der HTL Waidhofen/Ybbs entstanden ist, in der Nähe des Schneebergs, wo er auf Herz und Nieren geprüft wird.

Klimawandel oder lokales Phänomen?

Anfang Mai wird Manfred Dorninger die Messstation in der Doline erneut besuchen: Auf die Daten ist er schon gespannt – soll doch die gegenwärtige Kältewelle weiter anhalten. Einen neuen Minusrekord erwartet er sich allerdings nicht. Der Klimawandel? "Das gilt noch zu klären. Dass es in der Doline nie wieder so kalt geworden ist wie 1929 oder 1932 könnte auch ein lokales Phänomen sein", so der Wissenschafter. (APA/br)


Das Paper "Meteorological Events Affecting Cold-Air Pools in a Small Basin" (Autoren: M. Dorninger, C. D. Whiteman, B. Bica, S. Eisenbach, B. Pospichal und R. Steinacker) erschien im November 2011 im "Journal of Applied Meteorology and Climatology".