"Meine Forschung": Welche Folgen hat Österreichs Opposition im EU-Ministerrat?

Die meisten europäischen Rechtsakte müssen im Rat der EU nicht mehr einstimmig beschlossen werden. In ihrer Dissertation untersucht Brigitte Pircher, wie sich ein "Überstimmtwerden" Österreichs auf die Umsetzung der Richtlinien auswirkt.

Im Rat der EU ist für die Verabschiedung verbindlicher Rechtsakte in den meisten Politikfeldern eine qualifizierte Mehrheit, keine Einstimmigkeit, erforderlich. Aufgrund dieser Mehrheitsregel können einzelne Mitgliedstaaten überstimmt werden, was die Übernahme einer Richtlinie in nationales Recht negativ beeinflussen könnte. Doch führt eine Opposition im Rat (verstanden als Gegenstimme und Stimmenthaltung) tatsächlich dazu, dass Mitgliedstaaten die jeweilige Richtlinie verspätet oder nicht rechtskonform umsetzen?

Wer Richtlinien umsetzt und wer nicht

"Aus der politikwissenschaftlichen Forschung sind uns viele unterschiedliche Variablen bekannt, die eine Richtlinienumsetzung beeinflussen können", erklärt Brigitte Pircher, die dieses Thema derzeit im Rahmen ihrer Dissertation behandelt. Neben administrativen, ökonomischen, parteipolitischen und anderen innerstaatlichen Faktoren spielen hier auch die involvierten Akteure eine Rolle. "Ob die ablehnende Haltung eines Mitgliedstaats gegenüber einer Richtlinie – auch unabhängig vom Stimmverhalten im Rat – wirklich ein Faktor für eine fehlerhafte oder verspätete Richtlinienumsetzung sein kann, wird selten und zumeist kontrovers diskutiert", so die Nachwuchswissenschafterin.

Im uni:view-Dossier "Meine Forschung" stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.


Bisherige Studien haben Pircher zufolge entweder keine eindeutigen Ergebnisse gebracht oder aber festgestellt, dass die ablehnende Haltung gegenüber einem Rechtsakt ein Grund für die Nicht-Einhaltung von EU-Recht sein könne. Im Unterschied dazu fokussiert die Arbeit der Politikwissenschafterin ausschließlich auf den Faktor der Opposition im Rat und dessen Auswirkungen auf die Richtlinienumsetzung, sowohl quantitativ als auch qualitativ.

Österreich häufig dagegen


Dazu hat Pircher bereits einen umfassenden Datensatz mit allen formal verabschiedeten Richtlinien von 2000 bis 2008 erstellt. Sie dokumentierte die in diesem Zeitraum verabschiedeten Richtlinien gemeinsam mit dem jeweiligen Abstimmungsergebnis, Abstimmungsverhalten aller Mitgliedstaaten, den zur Anwendung gelangten Abstimmungsregeln sowie den angenommenen Texten und Erklärungen.

Die Auswertung des Datenmaterials hat u.a. ergeben, dass Österreich bei der Verabschiedung von 439 Richtlinien im Untersuchungszeitraum 2000 bis 2008 insgesamt elf Mal eine oppositionelle Haltung (vier Gegenstimmen, sieben Stimmenthaltungen) eingenommen hat. Häufiger wurde dies nur von Belgien (15 Fälle) und Frankreich (zwölf Fälle) praktiziert.

Das Stimmverhalten …

"Die von den Mitgliedstaaten angegebenen Erklärungen zu ihrem Stimmverhalten zeigten dabei, dass eine oppositionelle Haltung nicht notwendigerweise eine Ablehnung der in der Richtlinie enthaltenen Standards und ihren Regelungsbereichen bedeutet", relativiert Pircher. Ablehnungsgründe können auch nicht enthaltene Standards sein (beispielsweise wenn eine Richtlinie dem Mitgliedsstaat "nicht weit genug" geht). So stimmte Österreich etwa gegen die Richtlinie 2007/43 über die Mindestvorschriften zum Schutz von Masthühnern, da die enthaltenen Regelungen prinzipiell zwar "in die richtige Richtung" gingen, aus österreichischer Sicht der Tierschutz jedoch zu wenig berücksichtigt wurde. "In meiner Arbeit filtere ich solche Fälle aus, da hier keinerlei Auswirkungen auf die Pünktlichkeit oder Rechtskonformität in der Richtlinienumsetzung zu erwarten sind", betont Pircher.

Weitere Informationen über die Gründe der oppositionellen Haltung und über Details zum Prozess der Richtlinienumsetzung gewinnt die Forscherin über Experteninterviews mit Ministerien-, NGO- und Interessens-VertreterInnen.

… und seine Konsequenzen bei der Richtlinienumsetzung

Bei allen verbleibenden Richtlinien, bei denen Österreich im Rat dagegen gestimmt bzw. sich seiner Stimme enthalten hat, wird die Richtlinienumsetzung näher untersucht. Um zu erkennen, ob es bei der Umsetzung zu Defiziten gekommen ist, werden als Kriterien die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren und die zeitliche Dimension herangezogen (fristgerecht vs. verspätet). Im Anschluss werden die Werte der Rechtskonformität und etwaiger Verspätungen bei der Umsetzung aller im Untersuchungszeitraum befürworteten mit den nicht-befürworteten Richtlinien gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung ist für das Formulieren von Aussagen, inwieweit ein "Überstimmtwerden" Österreichs im Rat die Richtlinienumsetzung beeinflusst, notwendig.

"Nach Verabschiedung eines EU-Rechtsakts, muss dieser in den Mitgliedstaaten implementiert werden. Dieser Prozess ist stark politisch und von verschiedenen Akteuren geprägt. Erst bei der Implementation zeigt sich, ob eine verabschiedete Politik erfolgreich sein kann oder nicht", schließt Brigitte Pircher.

Brigitte Pircher, studierte Politikwissenschaft und Europäische Studien in Innsbruck und Wien. Beruflich war sie jeweils mehrere Jahre im Europäischen Parlament in Brüssel und Straßburg sowie im Nachbarschaftsservice "wohnpartner" in Wien für den Bereich Wissenschaft und Vernetzung tätig. Derzeit arbeitet sie als Kommunikations- und Publikationsassistentin am Institut für europäische Integrationsforschung (EIF) an der Universität Wien. Ihre Dissertation trägt den Titel "Österreichs Opposition im Rat der EU und ihre Auswirkungen auf die Richtlinienumsetzung" und wird von ao. Univ. Prof. Dr. Gerda Falkner betreut.  

Literaturtipp zum Thema:
Falkner, Gerda; Treib, Oliver; Hartlapp, Miriam; Leiber, Simone: "Complying with Europe. EU Harmonisation and Soft Law in the Member States", Cambridge, Cambridge University Press (2005).