"Meine Forschung": Senizid in der Geschichte der Ostslawen

Die Ostslawen, die vor 1.000 Jahren auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, Russlands und Weißrusslands lebten, schickten ihre "Alten" als "Botschafter" ins Jenseits – zum Wohle der Gemeinschaft. Nataliya Korotkykh untersucht die Rechtsgeschichte des Phänomens Altentötung: vom Brauch zum Delikt.

Im Rahmen ihres Dissertationsprojekts beschäftigt sich die Rechtshistorikerin Nataliya Korotkykh mit dem Phänomen der rituellen Altentötung (Senizid) in der Kiewer Rus (Anm.: mittelalterliches Großreich mit Zentrum in Kiew). Im Zentrum steht dabei die Transformation eines akzeptierten Elements der sozialen Ordnung hin zum strafrechtlichen Delikt. In der ostslawischen Rechtsgeschichte wurde diesem Thema bis jetzt kaum Aufmerksamkeit geschenkt.

Im uni:view-Dossier "Meine Forschung" stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.

Tod als ÜbergangDen Senizid als Brauch findet man nur in der frühesten Periode der Kiewer Rus (5. bis 6. Jh.), im 7. bis 8. Jahrhundert wird das Phänomen kaum mehr erwähnt. Als Anhänger heidnischer Religionen stellten die Ostslawen die dialektische Triade "Leben – Tod – Leben" in das Zentrum des Daseins. Für sie war der Tod nicht endgültig, sondern sie sahen ihn vielmehr als einen Übergang in ein anderes Leben. Weil die Ostslawen eine agrarische Gesellschaft waren, hing ihr Überleben wesentlich von Umweltfaktoren ab. So bedeuteten z.B. Naturkatastrophen eine Gefahr für die Gemeinschaft. Um diesen entgegenzuwirken, schickte man Botschafter in das Jenseits. Diese Rolle füllten die ältesten, wichtigsten und hochrespektierten Mitglieder der Gemeinschaft aus. Sie "starben" nach Vorstellung der Ostslawen nicht im eigentlichen Sinne, sondern wurden in ein anderes Leben geschickt und halfen somit der Gemeinschaft.


Rekonstruktion durch Vergleichsanalysen

Es gibt kaum Beschreibungen zum Ablauf des Rituals. Nur durch Vergleichsanalysen folkloristischer und ethnographischer Materialien aus dem Archiv der Russischen Geographischen Gesellschaft, Berichten ausländischer Reisender und einigen archäologischen Quellen lässt sich feststellen, dass die Altentötung auf verschiedene Weise ausgeführt wurde. Dabei spielten die Jahreszeiten eine wichtige Rolle. Im Winter wurden die alten Menschen häufig im Wald oder der Steppe sich selbst überlassen. Im Sommer hingegen ertränkte man sie in Seen, Flüssen oder im Moor. Es finden sich Belege, dass die Alten der Opferung freiwillig zustimmten, mit dem Ziel, dadurch der Gemeinschaft hilfreich zu sein.

Den Senizid auszuführen war die Aufgabe der Kinder der Opfer. Die Führer und Häuptlinge der Gesellschaft kontrollierten den Vollzug des Rituals. Sie gaben die entsprechenden Anordnungen. Falls die Kinder sich weigerten, die Eltern zu töten, wurden sie unter massiven Druck gesetzt. In ukrainischen Sagen werden sie für ihren Ungehorsam bestraft.

Altentötung und Kannibalismus

Die Geschichtsschreibung kennt das Phänomen Senizid auch aus anderen Gesellschaften, oft geht es mit Beschreibungen von Kannibalismus einher: Laut den Berichten des Geschichtsschreibers Herodot vergoldeten beispielsweise die Isadonen nach dem Verzehr des Fleisches ihrer Eltern deren Schädel; Wilhelm von Rubruk beobachtete Tibeter, die alte Menschen töteten und aus ihren Schädeln tranken, um die eigene Kraft zu stärken.

In den ostslawischen Quellen finden sich keine Hinweise im Zusammenhang mit der Altentötung. Einzig in den Märchen erscheint "Baba-Yaga" als Menschenfresserin. Sie wohnt in einem Haus im Walddickicht, wo sich an einem geheimen Platz zerstückelte menschliche Körper befinden.
(Bild: Baba Yaga auf ihrem Mörser, Iwan Jakowlewitsch Bilibin, 1899. Foto: Wikipedia)

Die Transformation und Aussterben des Brauches

Nach der Christianisierung im 10. Jh. finden sich kaum mehr Erwähnungen des Senizids. Zwar enthält die Nestorchronik – die älteste erhaltene ostslawische Chronik und damit eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte der Kiewer Rus – episodische Berichte über die Tötung alter Frauen, aber die allgemeine gesellschaftliche Funktion der Altentötung verschwand aus den Quellen. Der Senizid als Element des Gewohnheitsrechts in der vorchristlichen ostslawischen Gesellschaft wurde durch die Rezeption der byzantinischen gesetzlichen Doktrin in der christianisierten Kiewer Rus zum strafrechtlichen Delikt.

Allgemein stellte das Strafrecht in der Kiewer Rus eine Art der Symbiose zwischen vorchristlichen Traditionen und der Gesetzgebung des byzantinischen Imperiums dar. Die Dissertation beschäftigt sich mit den Besonderheiten dieser Symbiose und den Einflüssen der byzantinischen Gesetzgebung auf Bereiche des Strafrechts.

Mag. Nataliya Korotkykh, geb. 1982 in der Ukraine (Wytwyza), schreibt ihre Dissertation mit dem Titel "Der Einfluss der byzantinischen Gesetzgebung auf die Entwicklung des Strafrechts und Gerichtssystems in der Kiewer Rus (IX-XIII Jh.)" am Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Sie beschäftigt sich mit dem byzantinischen Einfluss auf die ostslawische frühmittelalterliche Strafrechtsgeschichte und ist Mitglied der Forschungsplattform Wiener Osteuropaforum.

Literaturtipp zum Thema:
Haase, F. Volksglaube und Brauchtum der Ostslawen, Breslau, 1939.