Mehrheit der WienerInnen befürwortet Migration und kulturelle Vielfalt

Seit 1989 werden im Auftrag der Stadt Wien Befragungen zum Thema Zusammenleben in Wien und Zuwanderung durchgeführt. Diese wurden nun erstmalig von SoziologInnen der Universität Wien ausgewertet. Die Ergebnisse sind angesichts der Wien-Wahl überraschend. Ein Interview mit Roland Verwiebe.

uni:view: Herr Professor Verwiebe, Sie forschen seit Jahren zu Mobilität und kultureller Vielfalt. Was wäre Wien ohne Migration?
Roland Verwiebe:
Derzeit haben rund 48 Prozent der WienerInnen einen Migrationshintergrund. Ohne diese Menschen würde hier keine Tram mehr fahren, keine U-Bahn, Billa und Hofer müssten schließen und sie könnten vermutlich auch kein Bier und keinen Wein mehr trinken gehen; ich spitze etwas zu. Im Grunde würde der gesamte Servicesektor in Wien zusammenbrechen. Oder die Alternative: Die Preise in den Supermärkten oder die Ticketpreise würden drastisch erhöht werden. Ohne Migration müssten Städte wie Wien, London, Berlin etc. buchstäblich zusperren.

uni:view: Sie und Ihr Team vom Institut für Soziologie haben nun erstmalig das "Zuwanderungs-Monitoring" der Stadt Wien von 1989 bis ins Jahr 2013, also bis vor rund zwei Jahren, analysiert und in einem "Werkstattbericht" zusammengefasst. Was macht das Thema für Sie so interessant?
Verwiebe:
Die quantitativen Befragungen bilden eine wichtige Grundlage für das Verständnis dafür, wie die WienerInnen Zuwanderung wahrnehmen und wie sich ihre Einstellungen im Laufe der Zeit geändert haben.

uni:view: Und wie sah die Einstellung der WienerInnen zum Thema Migration und Zuwanderung vor zwei Jahren aus?
Verwiebe:
Die Umfrage zeigt insgesamt in vielen zentralen Bereichen wie dem Arbeitsmarkt und der Praxis des Zusammenlebens Toleranz. Rund 85 Prozent der Befragten sahen Zuwanderung als positiven Impuls für das Stadtleben an und befürworteten gleiche Rechte und Chancen für MigrantInnen, die schon lange in Wien leben. 91 Prozent sprachen sich dafür aus, die Religion und kulturellen Gepflogenheiten von MigrantInnen zu respektieren, solange sich diese an die österreichischen Gesetze halten.

uni:view: Wie passt das mit dem Ausgang der Wien-Wahl 2015, konkret mit dem Wahlergebnis der FPÖ zusammen? Es war doch gerade das Thema "Asyl und Flüchtlinge" für zahlreiche WählerInnen ausschlaggebend.
Verwiebe:
Ich gehe davon aus, dass bei einer aktuellen Erhebung natürlich eine Abschwächung der positiven Einstellungen und eine Zunahme eines Problembewusstseins an bestimmten Stellen zu verzeichnen wäre. In der Langzeitstudie zeigt sich insgesamt, dass internationale Krisen für Schwankungen bei den Umfrageergebnissen sorgen. Ob der Irakkrieg, die Balkankrise in den 1990er Jahren oder jetzt sicherlich auch die Flüchtlingskrise. Über 30 Prozent für die FPÖ ist in einer Stadt wie Wien natürlich ein erschreckendes Signal. Ich glaube aber nicht, dass wir aktuell eine Halbierung der Befürwortung von Zuwanderung hätten. Es geht hier nicht nur um die Ablehnung von Migration, sondern auch um generelle Probleme.


uni:view: Bereits 2013 befürchteten rund 45 Prozent der Befragten auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem negative Effekte durch Zuwanderung …

Verwiebe:
Ja, ein möglicher Druck auf die Löhne und wachsende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sind große Themen. Ebenso steht es mit der schulischen Ausbildung, bei der auch viele der Befragten eine Verschlechterung für ihre Kinder befürchten. Hier zeigt sich eindeutig, dass in diesen Bereichen ein politischer Handlungsbedarf besteht. In diesen Handlungsfeldern kann und muss die Stadtregierung aktiv werden.

uni:view: Hat das die Regierung bislang verschlafen und so der populistischen FPÖ zugespielt?
Verwiebe:
Ich sehe die Verantwortung für die hohe Zustimmung der FPÖ schon vor allem bei der SPÖ und ÖVP. Die großen Volksparteien haben versäumt – und das zeichnet sich nicht nur in Österreich, sondern in vielen weiteren europäischen Ländern ab –, den BürgerInnen nachvollziehbar zu erklären, was es bedeutet, in einer sich globalisierenden Welt zu leben. Welche ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen passieren und auch nicht passieren.

Den Befragten wurde die Frage gestellt, ob sie die Zuwanderung als "sehr großes Problem" empfinden. Insbesondere ältere Menschen sind heute deutlich skeptischer als noch vor 10 Jahren. Diese Bevölkerungsgruppe kommt am wenigsten mit der Modernisierung  klar. Daraus ergibt sich ein politisches Handlungsfeld: sich gezielt mit den Bedürfnissen älterer Menschen zu beschäftigen und vermehrt Bildungs- sowie Integrationsangebote ins Leben zu rufen. (Quelle: "Zuwanderungs-Monitoring" 2010/2013) 


uni:view: Wie kann oder soll die Regierung Ihrer Meinung nach nun reagieren?
Verwiebe:
Die Regierung muss sich den Themen stellen und nicht wegducken, wie es z.B. in der Flüchtlingskrise lange passiert ist und teilweise immer noch passiert. Man muss raus auf die Straße, rein in die Betriebe und Gemeindebauten und den Menschen das Thema nahebringen. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, ihre Sorgen ernst zu nehmen. Das sind Investitionen, die getätigt werden müssen. Ein "Einfach-So-Weitermachen" reicht nicht aus.

Befragte MigrantInnen sprechen von Diskriminierungserfahrungen in vielen Lebensbereichen. Z.B. geben über 50 Prozent der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund an, schon einmal diskriminiert worden zu sein, etwa bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche. (Abbildung: Diskriminierungserfahrungen aufgrund der ethnischen Herkunft in verschiedenen Lebensbereichen, Quelle: "Zuwanderungs-Monitoring" 2010/2013)


uni:view: Wie können WissenschafterInnen, z.B. Sie und Ihr Team, einen Beitrag leisten?
Verwiebe:
Wir müssen uns so gut wie möglich mit unseren Expertisen in die gesellschaftlichen Debatten einbringen. Gerade im Bereich der Migrationsforschung gibt es exzellente Wissensbestände aus der Soziologie. Ich hoffe, dass z.B. Auswertungen wie die vorliegende von politischen Entscheidungsträgern und Verbänden, Unternehmen etc. wahrgenommen werden.

uni:view: Was können politische Entscheidungsträger und Unternehmen konkret mit den Ergebnissen der Studie anfangen?
Verwiebe:
Die Akzeptanz von Zuwanderung in Wien ist generell sehr hoch. Die Menschen in Wien artikulieren aber auch konkret Sorgen, die mit Zuwanderung verbunden sind. Dies betrifft zum Beispiel die Qualität der schulischen Bildung, hier kann und muss die Politik investieren, vielleicht auch gemeinsam mit Unternehmen, denen es in Arbeiter-  und Handwerkerberufen zunehmend an Nachwuchs mangelt. Wien hat in der Vergangenheit in diesem Bereich etliche Modellvorhaben ins Leben gerufen. Diese gilt es auszubauen. In Schulen, wo der Anteil von migrantischen Jugendlichen besonders hoch ist, sollte einerseits die Zahl von LehrerInnen erhöht werden, andererseits kann man über die Einstellung von SozialarbeiterInnen nachdenken, die Jugendliche und ihre Eltern jenseits des Unterrichts stärker einbinden und verpflichten. (mw)

Das Projekt "Migration und Zusammenleben in Wien" unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Roland Verwiebe vom Institut für Sozialwissenschaften des Instituts für Soziologie lief von Juli 2014 bis März 2015 im Auftrag der Stadt Wien (MA 18). Seit 1989 werden im Auftrag der Stadt Wien Befragungen zum Thema Zusammenleben in Wien und Zuwanderung durchgeführt, im Winter 2015/16 wird es ein erneut ein Zuwanderungsmonitoring geben.