Kriechende Zellen

Leukozyten - auch als weiße Blutkörperchen bekannt - sind für die Abwehr verschiedener Krankheitserreger im menschlichen Körper zuständig. Dafür müssen sie aber zunächst die Blutbahn verlassen und durchs Gewebe dorthin "kriechen", wo sie gebraucht werden. Diese unabhängige Fortbewegung von Zellen steht im Zentrum des Forschungsinteresses von Christian Schmeiser. Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe am Johann Radon Institut (RICAM) der ÖAW und BiologInnen des Instituts für Molekulare Biotechnologie der ÖAW untersucht der Mathematiker ihm Rahmen des WWTF-Projekts "Mathematische Modellierung aktin-getriebener Zellbewegung" die Dynamik des Zellskeletts.

Fibroblasten - Zellen, die in der menschlichen Haut für die Wundheilung verantwortlich sind - und Leukozyten haben etwas gemeinsam: sie können sich im Körper des Menschen unabhängig fortbewegen. Im Unterschied zu den Fibroblasten folgen die Leukozyten aufgrund eines speziellen Mechanismus - der Chemotaxis - chemischen Signalen. Dadurch werden sie im Körper dorthin geleitet, wo eine Entzündung ihren Einsatz erfordert. "Das bedeutet, dass ein besseres Verständnis solcher Vorgänge auch für die Medizin von Relevanz ist: WissenschafterInnen könnten dadurch lernen, die beschriebenen Mechanismen - zum Beispiel medikamentös - zu beeinflussen", betont der Mathematiker.

Christian Schmeiser vom Institut für Mathematik untersucht in dem Projekt "Mathematische Modellierung aktin-getriebener Zellbewegung" dieses unabhängige "Kriechen" von Zellen. Zusammen mit ForscherInnen vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) erforscht er dafür die Bewegung des Zytoskeletts - oder Zellskeletts - verschiedener Zellarten.  "Das Zytoskelett sieht dem menschlichen Skelett zwar nicht ähnlich, erfüllt aber sehr ähnliche Aufgaben", erklärt der Wissenschafter. So hat das Zellskelett eine wesentliche Stützfunktion und ist außerdem für die Bewegung der Zelle verantwortlich. "Der eigentliche Unterschied besteht in der Dynamik dieser Strukturen: Sie verändern sich stetig und werden immer wieder neu auf- bzw. abgebaut", fährt Schmeiser fort.

Elektronentomographie

Anhand elektronenmikroskopischer Methoden können diese Strukturen dreidimensional abgebildet werden. Dies ist unter anderem die Aufgabe der BiologInnen am IMBA. Da unter dem Elektronenmikroskop keine lebenden Zellen in Augenschein genommen werden können, bleiben die dreidimensionalen Bilder der Zellen stationär. Die WissenschafterInnen müssen zu einer weiteren Methode greifen - der Lichtmikroskopie. Sie erlaubt die Beobachtung der lebenden Zelle. "Die Bilder, die man daraus erhält, sind jedoch bei weitem nicht so genau wie jene aus der Elektronenmikroskopie", betont Schmeiser.

Interdisziplinäre Einsichten

Dem Forschungsteam rund um den Mathematiker obliegt deshalb die Aufgabe, herauszufinden, wie das Zytoskelett in den verschiedenen Bewegungszuständen aussieht. "Welche Mechanismen führen zu bestimmten Bewegungen? Diese Frage versuchen wir mit mathematischen Modellen zu beantworten", schildert Schmeiser. Anschließend vergleichen die MathematikerInnen die Simulationsresultate der Computermodelle mit den Bildern der BiologInnen.

Auf diese Weise konnte das Projektteam bereits eine gängige Lehrbuchmeinung wiederlegen: "Diese besagt, dass das Zellskelett aus einem verzweigten Netzwerk von Filamenten - fadenförmigen Strukturen - besteht, und dass von den bestehenden Filamenten neue seitlich abzweigen", erklärt Schmeiser, der sich bereits seit einigen Jahren intensiv mit Zellbiologie auseinandersetzt. Seine KollegInnen am IMBA konnten nun beweisen, dass es sich bei diesen Abzweigungen um Artefakte handelt, die aufgrund der gängigen Abbildungsmethoden auf den Bildern erscheinen. "Im Rahmen des Projektes wurde nun eine schonendere Methode entwickelt um Zellen abzubilden und es zeigte  sich, dass diese Abzweigungen gar nicht vorhanden sind", so der Experte.

Simulierte Zellen ...

Das interdisziplinäre WWTF-Projekt ist auch ein Beitrag zur Verwirklichung der "Silicon Cell" - der mathematisch simulierten Zelle. Denn die Wissenschaft ist - bis auf wenige Ausnahmen für spezielle Zellen - noch weit davon entfernt, das Leben einer Zelle mathematisch zu beschreiben und am Computer zu simulieren. "Außerdem entwickeln wir im Laufe des Projekts eine spezielle Computersoftwar zur Zellsimulation", so der Experte.

... und neue Mathematik

Durch die interdisziplinäre Methode erzeugen die ForscherInnen zudem neue kontinuumsmechanische Modelle. Im Rahmen der Kontinuumsmechanik werden zum Beispiel die Dynamiken von Gasen oder Flüssigkeiten beschrieben, deren Grundmodelle relativ einfach sind. In diesem Zusammenhang ist Zellmaterial viel komplexer und zeichnet sich durch ganz spezielle Eigenschaften aus. "Indem wir diese Eigenschaften im mikroskopischen Detail beschreiben und gemittelte Modelle herleiten, produzieren wir neue mathematische Probleme", freut sich Schmeiser, der die größte Herausforderung des Projekts darin sieht, einen gemeinsamen Nenner zwischen der enormen Komplexität der Zellbiologie und der mathematischen Modellierung zu finden. (ps)

Das Projekt "Mathematische Modellierung aktin-getriebener Zellbewegung" läuft im Rahmen der Ausschreibung "Mathematik und ... Call 2009" des WWFT vom 1. Jänner 2010 bis zum 31. Dezember 2013 unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Christian Schmeiser, Fakultät für Mathematik. Es wird in Zusammenarbeit mit zwei Instituten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften - der Arbeitsgruppe für Mathematische Methoden in der Molekular- und Systembiologie des Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics (RICAM) und der Arbeitsgruppe von Dr. John Victor Small am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) - durchgeführt.