Islam und Europa – ein Widerspruch?

Ist der Islam demokratietauglich? Welche Rechte haben Frauen im Islam? BildungswissenschafterInnen der Universität Wien gehen gängigen Vorurteilen und Ängsten auf den Grund. Ihr Ansatz: Die Entwicklung eines humanistischen Islamverständnisses, das mit der europäischen Idee vereinbar ist.

Gemeinsam mit einem Kameramann ziehen die ProjektmitarbeiterInnen des Religionspädagogen Ednan Aslan durch die Straßen Wiens, um unterschiedliche Stimmen muslimischer MitbürgerInnen einzufangen: Sie fragen, ob sie zur Wahl gehen, was Identität für sie bedeutet und welche Rechte muslimische Frauen aus ihrer Sicht haben.

Dabei ist u.a. folgendes Video entstanden, das in Zukunft auch im Unterricht eingesetzt werden soll. "Ein Vorurteil gegenüber der muslimischen Frau ist, dass sie kein Recht auf Bildung hat", sagt eine der InterviewpartnerInnen, Amela, im Video. Nizama beispielsweise meint: "Vergessen auf die eigenen Rechte geht nur in Unwissen." Die zweifache Mutter beobachtet in ihrem Bekanntenkreis, dass viele Frauen nicht auf ihr Selbstbestimmungsrecht beharren.



Amela und Nizama sind nur zwei von vielen InterviewpartnerInnen im Projekt "Citizenship Education and Islam", das vom Bundesministerium für Bildung und Frauen gefördert wird. Dabei wollen die BildungswissenschafterInnen der Universität Wien u.a. herausfinden, wie es für MuslimInnen ist, im säkularen Österreich zu leben, und wo Ängste und Vorurteile – und damit eventuell auch Konfliktpotenzial – liegen könnten. Ziel ist es, verschiedene Unterrichtsmaterialien zu entwickeln, die auf diese Ängste eingehen und zeigen, dass Europa und Islam kein Widerspruch sein müssen. "Denn schlussendlich geht es in dem Projekt um Bildung und Wissen – also jenes Wissen in den Unterricht einfließen zu lassen, das Nizama bei ihren FreundInnen vermisst", so Projektkoordinator Michael Kramer vom Institut für Islamische Studien.

Frauen im Islam

"In unserer Gesellschaft gibt es mittlerweile feste Meinungen darüber, welchen Stellenwert die Frau im Islam einnehme. Dabei weiß kaum jemand, dass der Koran sehr wohl von Gleichberechtigung spricht, wenn man im Sinne des Korans weiterdenkt", erklärt Projektleiter Ednan Aslan, Leiter des Instituts für Islamische Studien der Universität Wien.

Im 7. Jh. wurde den muslimischen Frauen ein Ehevertragsrecht, ein Eigentumsrecht und ein Scheidungsrecht eingeräumt. Mit der Zeit ist aber die revolutionäre Idee in Vergessenheit geraten und viele Dinge haben sich wieder zurückentwickelt. "Die Ungleichheit zwischen Mann und Frau im Islam hat also weniger mit der Religion an sich zu tun, sondern vielmehr mit der jeweiligen Kultur und Tradition eines Landes sowie mit einer Theologie, die als Religion wahrgenommen wird", so Michael Kramer.

Im Rahmen des Projekts "Citizenship Education and Islam" gehen WissenschafterInnen der Universität Wien u.a. auf die Straße und fragen MuslimInnen, was für sie Demokratie, Gleichberechtigung oder Identität bedeuten und erarbeiten anschließend Unterrichtsmaterialien, um sowohl MuslimInnen als auch Nicht-MuslimInnen in Österreich zu vermitteln, was Islam bedeutet und dass Europa und Islam kein Widerspruch sein müssen.

Historisch-kritischer Ansatz

Dementsprechend sollte es – ginge es nach den WissenschafterInnen – auch einen "Islam europäischer Prägung" geben. Das Team setzt sich anhand eines historisch-kritischen Ansatzes mit dem Koran und der Sunna auseinander: "Wir wollen über die themenspezifische Ausarbeitung dieser Fachtexte ein modernes Islamverständnis entwickeln", erklärt Kramer, der sich nach dem Jus-Studium auf islamisches Recht spezialisiert hat, und betont: "Dafür hinterfragen wir zum einen den geschichtlichen Kontext religiöser Quellen sowie deren Interpretationen und berücksichtigen zum anderen kulturelle, soziale und politische Veränderungen im religiösen Verhalten."

Über diese historisch-kritische Hermeneutik gelangen die ForscherInnen nicht nur zu historischen Fakten: "Wir lösen zudem den religiösen Kern heraus – und zwar die universelle, ethisch-moralische Lehre im Islam."

Zurück zum Ur-Islam

Was bedeutet das konkret? Das Projektteam untersucht, was der Koran zu Themen wie Menschenrechte, Gleichberechtigung, Demokratie und Frieden bis hin zur religiösen Vielfalt zu sagen hat und zeigt auf, dass es sehr wohl Überschneidungen mit den "europäischen Werten" gibt.

Mit der historisch-kritischen Auslegung des Islam will das Team rund um Ednan Aslan eine veraltete Theologie aufbrechen, europatauglich machen und eine Akzeptanz für ein modernes, liberales Islamverständnis schaffen.

"Es ist spannend zu sehen, dass ein freiheitsliebender Islam, der Bildung und Familie in den Vordergrund stellt, eine pluralistische Gesellschaft ermöglicht und andere Religionen als gleichwertig anerkennt, vom 7. Jh. bis ins 13. Jh. bereits existierte", so Kramer und ergänzt: "Im Grunde ist der europäische Islam, wie wir ihn in unserem Projekt vermitteln wollen, dem Ur-Islam des 7. Jahrhunderts näher als dem des heutigen Saudi Arabiens."

Auch in Hinblick auf die Sunna – die rund 300 Jahre nach dem Propheten niedergeschrieben wurde, dessen Aussprüche sowie Handlungen umfasst und nach dem Koran als zweitwichtigste islamische Rechtsquelle gilt – ergeben sich für die ForscherInnen interessante Fragen: Wer waren die Überlieferer? Widerspricht die Sunna zum Teil dem Koran?

Was ist alles Haram?

Anhand dieser Texte hangeln sich die IslamwissenschafterInnen von einem Thema zu nächsten, definieren verschiedene Normen und Werte von Islam und Demokratie und liefern so fundierte Antworten auf Fragen, die junge MuslimInnen beschäftigen. Dabei gehen sie v.a. auf tagesaktuelle Themen, Ängste und Konflikte ein: Welche Rolle spielen Drogen oder Sexualität bei den jungen MuslimInnen und was unterscheidet sie in dieser Hinsicht von anderen Jugendlichen? Welchen Stellenwert haben Schule und Familie? Und nicht zuletzt: Was ist alles Haram? "'Haram' – das bedeutet so viel wie 'Verbot' – hat sich bereits zum Kultwort unter muslimischen Jugendlichen etabliert. Und für einige ist so ziemlich alles Haram: Von Alkohol über Musikhören bis hin zu demokratischen Wahlen", erklärt Kramer.

Wissen schützt

Solche Diskussionen verwirren und überfordern junge MuslimInnen oftmals. "Vielen fehlt das nötige Wissen und es fällt ihnen schwer, sich eine Meinung bezüglich Fragen der täglichen Glaubenspraxis, Identität und der Rolle von Männern und Frauen im Islam zu bilden oder die vorhandenen Bilder zu hinterfragen", so Aslan. Denn es sei wichtig, zu verstehen, welche Fragen die jungen Leute beschäftigen und wie der Koran selbst dazu beiträgt, Argumente von Seiten konservativer MuslimInnen zu entkräften. "So kann das vermittelte Wissen auch dabei helfen, Jugendliche vor den Einflüssen radikaler Strömungen zu schützen", betont der Projektleiter.

Dafür erarbeiten die WissenschafterInnen gemeinsam mit einer Didaktikerin Unterrichtsmaterialien – von Handouts über theologische Fachtexte bis hin zu Videos – und stellen diese den Schulen zur Verfügung. "Aber nicht nur für den Religionsunterricht. Von der Rechtslehre über politische Bildung bis hin zur Geschichte – die Materialien sollen fächerübergreifend genutzt werden können", betont Kramer. Damit Amela in einigen Jahren sagen kann: "Über den Unterricht in den Schulen werden viele Vorurteile gegenüber MuslimInnen abgebaut." (ps)

Das Projekt "Citizenship Education and Islam" läuft seit ende 2013 unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Ednan Aslan, M.A., Leiter des Instituts für Islamische Studien der Universität Wien. ProjektmitarbeiterInnen sind Mag. Michael Kramer, Azra Agovic und Mag. Maria Jedliczka. Das Projekt wird vom Bildungsministerium für Bildung und Frauen finanziert.