Grenzüberschreitende Gerichtsentscheidungen

Völkerrechtliche Entscheidungen nationaler Gerichte stehen im Mittelpunkt eines aktuellen EU-Projekts unter maßgeblicher Beteiligung von August Reinisch. Untersucht wird, ob und inwieweit sich Urteile in jeweils ähnlichen Fällen grenzüberschreitend beeinflussen. Dabei können die ForscherInnen der fünf teilnehmenden Universitäten u.a. auf eine Datenbank von über 1.000 Gerichtsfällen aus 80 Ländern zurückgreifen, die Reinisch und sein Team in FWF-Projekten erarbeitet haben bzw. laufend erweitern. Das EU-Projekt ist das erste im Rahmen des Programms EUROCORES-ECRP geförderte Forschungsvorhaben einer rechtswissenschaftlichen Fakultät in Österreich.

Fallbeispiel: Seit 2004 entschieden mehrere italienische Gerichte, dass Deutschland aufgrund von Wehrmachtsverbrechen Entschädigungszahlungen an bestimmte italienische StaatsbürgerInnen leisten muss. Nachdem diese Entscheidungen höchstgerichtlich bestätigt wurden und teilweise zu Zwangsvollstreckungsmaßnahmen führten, kontaktiert Deutschland den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag: In Berlin ist man der Meinung, dass Italiens Gerichtsentscheidungen gegen Deutschlands Staatenimmunität verstoßen. "Italiens Auffassung ist völkerrechtlich gesehen umstritten, da Deutschland 'hoheitlich' gehandelt hat und somit kein innerstaatliches Gericht, sondern ein internationales zuständig wäre", erklärt August Reinisch, Vizedekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und stellvertretender Vorstand des Instituts für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung.

"Die geschilderten Fälle haben wir auch in unser aktuelles EU-Projekt aufgenommen, und wir werden analysieren, ob und inwieweit Italiens Gerichte von ähnlichen Entscheidungen aus anderen Ländern beeinflusst waren", so der Jurist weiter.

Internationales Projekt

Im EU-Projekt, das in Kooperation mit der Humboldt Universität Berlin, der Universität Amsterdam, der Universität Oslo und der Universität Lodz durchgeführt wird, untersuchen Reinisch und sein Team nationale gerichtliche Entscheidungen im Bereich Völkerrecht. Die Fragen der RechtswissenschafterInnen drehen sich dabei vorrangig um den sogenannten "justiziellen Dialog", d.h. inwieweit Gerichte eines Landes mit jenen anderer Staaten kommunizieren.

"Wir schauen uns zum Beispiel an, ob es jeweils vergleichbare Fälle in anderen Ländern gibt, und ob die Entscheidungen, die in den jeweiligen Fällen getroffen wurden, mitberücksichtigt werden", so August Reinisch.

Völkerrechtliche Datenbank: 1.000 Fälle aus 80 Ländern

Inhaltlich ist das EU-Projekt aus einem bereits abgeschlossenen FWF-Projekt von August Reinisch, "Völkerrecht in der nationalen Rechtsprechung", hervorgegangen. Der Jurist und sein Team erarbeiten seit mehreren Jahren – bereits im zweiten FWF-Projekt, das seit 1. Oktober 2010 läuft – eine umfassende völkerrechtliche Datenbank: "Mittlerweile haben wir alle europäischen Länder und etwa die Hälfte aller Nicht-EU-Staaten weltweit abgedeckt."

Projektmitarbeiter Gregor Novak ergänzt: "Die Datenbank beinhaltet rund 1.000 Fälle aus insgesamt 80 Ländern, wobei sich weitere 1.000 in Bearbeitung befinden. Aus Österreich wurden mehr als 20 Fälle beigesteuert." Beide FWF-Projekte haben neben den Fallbesprechungen, die im Rahmen der Online-Datenbank "Oxford Reports on International Law" (Oxford University Press) veröffentlicht wurden, zu Buchprojekten und internationalen wissenschaftlichen Tagungen geführt.

Interuniversitäre Arbeitsaufteilung

Die umfassende Datenbank fungiert für die insgesamt fünf am EU-Projekt teilnehmenden Universitäten somit als wichtige Quelle. Zusätzlich durchforstet jedes Länderteam Gerichtsentscheidungen aus EU- und Nicht-EU-Ländern auf "projektrelevante" Entscheidungen. "Diese werden zunächst sinnvoll geordnet", erläutert Reinisch: "Dann entscheidet ein Review-Board innerhalb der Forschungsgruppen, welche Fälle konkret für die internationalen Vergleiche herangezogen werden." Themenspezifisch – wie z.B. bei sogenannten "Peace Keeping"-Thematiken, bewaffneten Konflikten, Immunitätsfällen, etc. – werden sie dann auf die einzelnen Teams zu Analyse und Vergleich aufgeteilt.

"Unser primäres Ziel ist es zu klären, in welchem Ausmaß ein justizieller Dialog stattgefunden hat und welche Rolle ein Urteil in einem ähnlichen Fall vor einem Gericht eines anderen Staates spielt", betont Reinisch.

Die RechtswissenschafterInnen erwarten sich genaue Einblicke in nationale Gerichtspraktiken zu Völkerrechtsthemen sowie eine umfassende Bestandsaufnahme, aber auch Erkenntnisse darüber, inwiefern Entscheidungen auf der nationalen Ebene das Völkergewohnheitsrecht beeinflussen. (td)

Das EU-Projekt "International law through the national prism: the impact of judicial dialogue" unter der Leitung von August Reinisch wird im Rahmen des Programms EUROCORES-ECRP (European Collaborative Research Projects in the Social Sciences) der European Science Foundation (ESF) gefördert. Das mit über 1,5 Mio. Euro geförderte internationale Projekt – eine Kooperation der Universität Wien mit der Humboldt Universität Berlin, der Universität Amsterdam, der Universität Oslo und der Universität Lodz – startete im Oktober 2011 und läuft für drei Jahre.