Evolution ist keine Einbahnstraße

Zur Evolution von Schnecken, Muscheln und Tintenfischen ist noch vieles ungeklärt. ZoologInnen um Andreas Wanninger von der Universität Wien und der Universität Bergen/Norwegen haben den Entwicklungszyklus eines wurmförmigen Vertreters des Tierstammes untersucht und herausgefunden, dass er von einem komplexer gebauten Vorfahr abstammt.

Die Weichtiere (Mollusken) – Schnecken, Muscheln, Tintenfische usw. – stellen mit derzeit etwa 200.000 bekannten Arten eine der artenreichsten Tierstämme dar. "Was sie für evolutionäre Studien besonders interessant macht, ist aber nicht ihr Artenreichtum, sondern vor allem ihre beachtliche morphologische Variabilität", so Andreas Wanninger, Leiter des Departments für Integrative Zoologie der Universität Wien.

Winzige Larven gezüchtet

Um den evolutionären Ursprüngen dieser Tiergruppe auf die Spur zu kommen, konzentrierte sich das Team um Andreas Wanninger auf die unscheinbare Untergruppe der Stachelweichtiere (Aculifera) und nicht auf die oben genannten, bekannten Vertreter. Die Stachelweichtiere untergliedern sich wiederum in Wurmmollusken (Aplacophora, "nicht-schalentragende Weichtiere") und Käferschnecken (Polyplacophora).



Gesammelte Exemplare des Furchenfüßers "Helluoherpia aegiri" (Aplacophora, Mollusca) aus Bergen, Norwegen. (Foto: Maik Scherholz)



Vor allem die Erstgenannten werden aufgrund ihrer relativ einfachen Körperarchitektur häufig als die ursprünglichsten Mollusken betrachtet, also als jene Gruppe unter den heute noch lebenden Weichtieren, die in ihrer Morphologie am meisten dem letzten gemeinsamen Vorfahren aller Mollusken ähneln. "Für unsere Untersuchungen haben wir aus Sedimentböden in 200 Meter Tiefe vor der norwegischen Küste Proben mit Wurmmollusken entnommen und damit begonnen, die winzigen Larven – sie messen etwa 0,1 bis 0,3 Millimeter – vor Ort zu züchten", erklärt Christiane Todt, Kooperationspartnerin an der Universität Bergen in Norwegen.

Wurmförmiger mit Kalkstacheln

Die Aplacophoren sind wurmförmige, auf oder im Meeresboden lebende und mit Kalkstacheln bedeckte Organismen, die meist nur einige Millimeter bis wenige Zentimeter groß werden. Als ihre nächst verwandte Schwestergruppe werden oft die Käferschnecken vermutet, die mit ihrem großen Saugfuß, acht Schalenplatten und einer weitaus komplexeren inneren Anatomie, die eine höchst spezialisierte Muskulatur beinhaltet, schon eher an Schnecken und Muscheln erinnern. Daher wird auch häufig angenommen, dass sich Käferschnecken erst nach den Aplacophoren innerhalb der Stammlinie der Mollusken abgespaltet haben.



Die 5,2 Zentimeter lange, achtschalige Käferschnecke "Acanthopleura japonica" (Polyplacophora, Mollusca) von oben. (Foto: Maik Scherholz)



Larven sind komplexer

Die entwicklungsbiologischen Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Andreas Wanninger haben gezeigt, dass die Larven der zur Untergruppe der Furchenfüßer (Solenogastres) gehörenden Aplacophorenart Wirenia argentea eine weitaus komplexere Körpermuskulatur besitzen als die erwachsenen (adulten) Tiere. Interessanterweise gleicht diese Larvalmuskulatur bis in winzige Details jener ausgewachsenen Polyplacophoren. Erst im Laufe der Metamorphose von der Larve zum Jungtier werden wesentliche Komponenten dieser Muskulatur bei Wirenia abgebaut und damit ihre Körperorganisation wesentlich simplifiziert. Dies geht so weit, dass bei den ausgewachsenen Tieren neben von der Rücken- auf die Bauchseite hin verlaufende Dorsoventralmuskeln lediglich ein einfacher Hautmuskelschlauch – wie bei vielen anderen wurmförmigen wirbellosen Tieren – übrig bleibt.



3D-Rekonstruktion der Muskulatur eines späten Larvenstadiums (ca. 0,2 Millimeter) von "Wirenia argentea" (Aplacophora, Mollusca). Die Hauptmuskelgruppen sind durch farbliche Kodierung voneinander abgesetzt. (Foto: Maik Scherholz)



Gemeinsamer Vorfahr

"Der Bau der komplexen Muskulatur der Wirenia-Larven und jener adulter Polyplacophoren weist derart viele Gemeinsamkeiten auf, wie sie bei keiner anderen bisher untersuchten Molluskengruppen zu finden sind. Das deutet sehr stark darauf hin, dass beide Tiergruppen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, welcher ebenfalls eine solch hochdifferenzierte Muskulatur besaß. Dies wiederum legt den Schluss nahe, dass es sich bei den Aplacophoren um sekundär vereinfachte Formen handelt, die eventuell auch im Hinblick anderer Organsysteme aus einer wesentlich komplexer gebauten Stammart hervorgegangen sind", resümiert Andreas Wanninger das Forschungsergebnis.

Fossilfunde bestätigen Hypothese

Diese These wird durch neuere Fossilfunde gestützt, vor allem durch die vor kurzem entdeckte Art Kulindroplax perissokosmos aus dem Silur. Diese gleicht in wesentlichen Merkmalen den heute lebenden Aplacophoren – mit dem Unterschied, dass diese vor 425 Millionen Jahre lebenden Tiere, im Gegensatz zu ihren heutigen Verwandten, nicht "nackt" waren, sondern mit Schalenplatten, ähnlich jener der Polyplacophoren, bestückt waren. "Es sieht also ganz danach aus, dass unsere heute lebenden, einfach gebauten 'Nicht-Schalenträger' von einem schalentragenden Vorfahr mit einer hochkomplexeren Muskulatur abstammen", fasst Wanninger zusammen.

Welche Gene in der Entwicklung des Körperbaus der Aplacophora beteiligt sind und welche Funktionen diese übernehmen, wird derzeit ebenfalls im Rahmen des laufenden FWF-Projektes in der Arbeitsgruppe von Andreas Wanninger untersucht. (vs)

Das Paper "Aplacophoran Molluscs Evolved from Ancestors with Polyplacophoran-like Features" (AutorInnen: Aplacophoran Molluscs Evolved from Ancestors with Polyplacophoran-like Features. Maik Scherholz, Emanuel Redl, Tim Wollesen, Christiane Todt, Andreas Wanninger) erschien am 17. Oktober 2013 in Publikation in "Current Biology".