"Es gibt nichts Größeres im Fußball, als Weltmeister zu sein"

Heute erfolgt der Anpfiff zur Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. uni:view sprach mit dem Sportwissenschafter Johannes Uhlig über die Faszination des runden Leders, die neuesten Entwicklungen im Trainingsbereich und das angekratzte Image der FIFA.

uni:view: Mit der kommenden WM in Russland steht uns ein sportliches Großereignis bevor, das Millionen von Menschen rund um den Globus gespannt verfolgen werden. Wie ist diese enorme Begeisterung für ein eigentlich sehr simples Ballspiel zu erklären – was ist so faszinierend am Fußball?
Johannes Uhlig:
Fußball ist ein Sport mit einer mittlerweile sehr langen Tradition, für den man nicht sehr viel braucht: einige MitspielerInnen, einen Ball und zwei Tore. Das kostet nichts und kann dennoch viel Spaß bringen. Dass das Spiel an sich relativ simpel und leicht verständlich ist, stimmt natürlich. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus. Wer sich allerdings genauer mit dem Spiel per se und dem Regelwerk auseinandersetzt, merkt schnell, dass das gar nicht so leicht ist. Nehmen wir zum Beispiel die wichtigste Regel: die Abseitsregel. Die meisten Menschen wissen zwar grob, wie sie funktioniert. Wenn es aber um Details geht, kann es in Einzelfällen sogar ExpertInnen schwer fallen, richtig zu entscheiden.

uni:view: Was macht den Fußball aus sportwissenschaftlicher Sicht spannend?
Uhlig:
Beim Fußball sind viele unterschiedliche Bereiche wissenschaftlich interessant: Taktik, Technik, Koordination, Kondition oder Psychologie – und da vor allem die Kommunikation. Ich interessiere mich insbesondere für die Frage, wie sich die individuelle und kollektive Spielkompetenz am besten weiterentwickeln lässt und wie die optimale Trainings- und Spielsteuerung aussehen kann. Als TrainerIn muss man über solche Aspekte Bescheid wissen, um z. B. das Verletzungsrisiko der SpielerInnen möglichst gering zu halten. Denn gerade im Spitzenbereich herrscht heute eine enorme Spieldichte. Top-Spieler wie Ronaldo haben jährlich etwa 70 Spiele zu bestreiten. Dieser Dichte muss man in der Trainings- und Spielsteuerung Rechnung tragen und aufpassen, dass es zu keiner Überbelastung kommt und die SpielerInnen "frisch" bleiben.

uni:view: Sie sind ja mittlerweile schon sehr lange im Fußballsport tätig, waren selbst auch aktiver Spieler und später erfolgreicher Trainer bei verschiedenen Vereinen. Haben sich die Trainingsansätze und -methoden in dieser Zeit stark verändert?
Uhlig:
Wenn es um die neuesten Entwicklungen im Trainingsbereich geht, muss man ständig am Ball bleiben und sich laufend weiterbilden. Die Sportwissenschaft liefert hier wichtige Erkenntnisse, die es dann auch im praktischen Training umzusetzen gilt. Früher war es zum Beispiel so, dass man unterschiedliche Bereiche wie Taktik, Technik oder Kondition streng voneinander getrennt betrachtet und trainiert hat. Die moderne Trainingswissenschaft geht aber davon aus, dass es besser ist, verschiedene leistungsbestimmende Faktoren im Sinne des sogenannten Komplextrainings gleichzeitig zu trainieren – zum Beispiel Taktik und Kondition. Die Geschwindigkeit im Fußball ist in den vergangenen Jahren rapide angestiegen, daher sind verstärkt spielintelligente und kreative SpielerInnen gefragt, die motorisch wendig und schnell sind.

Im April war Johannes Uhlig (zweiter von links) mit einer Delegation des Wiener Fußball Verbandes einige Tage lang zu Besuch bei Manchester City, dem aktuellen Meister der britischen Premier League. "Ich war sehr beeindruckt, was der dortige Trainer Pep Guardiola aus der Mannschaft macht. Es war toll, das hautnah erleben zu dürfen", schwärmt der Experte. (© Johannes Uhlig)

uni:view: Hat man bei der Leistungsfähigkeit der SpielerInnen nicht schon die Grenze des Machbaren erreicht?
Uhlig:
In einigen Bereichen wie dem konditionellen oder dem technischen sind wir heute sicherlich schon an einer Grenze angelangt. Relativ viel Luft nach oben gibt es hingegen noch beim sogenannten Kognitionstraining. Hier geht es im Wesentlichen um geistig initiierte Prozesse wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Spielverständnis, Kreativität und Handlungsschnelligkeit. Denn im modernen Fußball müssen SpielerInnen oft in Sekundenbruchteilen reagieren und die richtigen Entscheidungen treffen.

uni:view: Was müssen FußballerInnen heutzutage mitbringen, um erfolgreich sein zu können?
Uhlig:
Eine unheimliche taktische und positionsspezifische Flexibilität und Variabilität. Das bedeutet, SpielerInnen müssen sowohl das offensive Spiel im Ballbesitz gut beherrschen als auch das defensive, wenn das gegnerische Team den Ball hat, das Umschaltspiel in beide Richtungen und auch zum Beispiel Systemveränderungen während eines Spieles. Das bedeutet, dass jemand mehrere Positionen beherrschen muss. Ein gutes Beispiel ist David Alaba, der früher, als er noch bei der Austria spielte, immer Stürmer war und plötzlich bei Bayern München oder im Nationalteam als linker Verteidiger, Innenverteidiger oder links im Mittelfeld eingesetzt wird. Diese Positionsflexibilität müssen Nachwuchstalente heute schon als Kinder im Training lernen, um später eine erfolgreiche Karriere als Profi einschlagen zu können.

uni:view: Ist der WM-Titel der größte Erfolg, den man im Fußball erreichen kann? Inwiefern ist eine Weltmeisterschaft eine besondere Herausforderung für SpielerInnen und TrainerInnen?
Uhlig:
Sobald man als SpielerIn das Nationaltrikot überstreift, geht es darum, das eigene Land bestmöglich zu vertreten. Eine WM ist da natürlich etwas ganz Besonderes. Es gibt nichts Größeres im Fußball, als Weltmeister zu sein. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass es für so ein Ereignis auch eine spezielle Vorbereitung braucht. In der Praxis ist das oft gar nicht so einfach, da viele SpielerInnen nach einer anstrengenden Saison nur eine kurze Verschnaufpause haben, bis es zur WM geht.

Und dort ist dann plötzlich alles anders: man hat andere TeamkollegInnen, andere TrainerInnen und befindet sich in einem anderen Land und einer anderen Umgebung. Das muss man als TrainerIn auch berücksichtigen. Um dann gut abschneiden zu können, ist das individuelle Monitoring der einzelnen SpielerInnen wichtig – das reicht von einem persönlich abgestimmten Training bis hin zum Ernährungsprogramm und Mentalcoaching. Denn das oberste Ziel ist eine optimale mentale und physische Frische für das Wettspiel.

uni:view: Abschließend noch eine Frage zur politischen Seite des Fußballs: Haben die FIFA-Skandale der letzten Jahre das Image des Sports beschädigt?
Uhlig:
Ja, mit dem letzten FIFA-Präsidenten Joseph Blatter und den gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfen hat das Image des Fußballs schon sehr gelitten. Zum Beispiel geht man heute davon aus, dass die Vergabe der WM 2022 nach Katar nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Blatter ist ja kein Einzelfall, auch bei Beckenbauer vermutet man dubiose Geschäfte. Hier ist offensichtlich illegal agiert worden. Dass Menschen der Gier und dem Reiz des Geldes verfallen, ist aber sicher kein Problem, mit dem ausschließlich der Fußball zu kämpfen hat.

uni:view: Vielen Dank für das Interview! (ms)

Johannes Uhlig zur WM:
Werden Sie persönlich die Fußball-WM verfolgen?
Ja, natürlich.
Wer ist Ihr Favorit?
Ich schätze Deutschland, Spanien und Argentinien als sehr stark ein.
Wie würde Ihr Traumfinale aussehen?
Deutschland gegen Spanien. (© Heribert Corn)

Johannes Uhlig ist Senior Lecturer und Leiter der Abteilung für Sportspiele am Institut für Sportwissenschaft des Zentrums für Sportwissenschaft und Universitätssport. Er ist seit etwa 25 Jahren in der TrainerInnenausbildung tätig, war selbst bereits Trainer mehrerer Vereine (u. a. beim Wiener Sport Club, im Nachwuchs von Austria Wien und Rapid Wien sowie beim U-17 Frauen-Nationalteam) und ist aktuell Sportdirektor des Wiener Fußball Verbandes.