"Diese Häuser hat der Most gebaut"

Wie kleine Burgen thronen die Vierkanthöfe auf den Hügeln des Mostviertels und prägen die Kulturlandschaft der Region. In einer umfassenden EU-Studie hat ein Team vom Institut für Geographie und Regionalforschung alle 207 Vierkanter der Region Haag wissenschaftlich erfasst.

So alt sind die rund 10.000 Vierkanthöfe Oberösterreichs und die 3.000 in Niederösterreich noch gar nicht, obwohl sie heute aus der Landschaft nicht mehr wegzudenken sind. Entstanden sind die meisten von ihnen vor rund 150 Jahren, zu einer Zeit als sich Wohlstand in der Mostregion ausbreitete. Wesentlicher Grund dafür war die Fertigstellung der Westbahn – erbaut von der Gesellschaft "k.k. privilegierte Kaiserin-Elisabeth-Bahn" –, die am 15. Dezember 1858 von Wien Westbahnhof bis Linz eröffnet wurde und schon ab 1. August 1860 durchgehend bis Salzburg befahrbar war. So konnten die zahlreichen Bauern und Bäuerinnen der Mostregion ihre Ernteerträge der Streuobstwiesen auf die Marktplätze großer Städte wie Wien, Linz und Salzburg schnell und günstig transportieren.

Eine Prestigesache

Neben der besseren Erreichbarkeit der Märkte, brachte die neue Bahnverbindung auch Arbeiter und Migranten in die nun prosperierende Region. Die empfing sie mit offenen Armen, da Arbeitskräfte für Ernte, Transport, aber auch für Bauarbeiten gebraucht wurden.


Ende des 19. Jahrhunderts kamen besonders viele Italiener in die Region, sie brachten das Ziegelhandwerk ins Mostviertel – noch heute sieht man viele Vierkanthöfe in dieser Tradition errichtet.



Der neue Wohlstand sollte natürlich auch sichtbar gemacht werden: der Vierkanthof wurde "geboren". In Anlehnung an städtische Bürgerhäuser sowie an Stifte aus der Region – z.B. St. Florian – wurde die vormalige "Haufensiedlung", also einzelne Gebäude mit unterschiedlicher Nutzung, zu einem einzigen großen, fast "wehrhaft" anmutenden Bau umgestaltet. "Für die damalige Zeit stellte der Vierkanthof die ideale Bewirtschaftungsform dar. Der geschützte und von allen vier Seiten umgebene Hofbereich, der angrenzende Stall, Schuppen sowie der Wohnbereich ergeben ein geschlossenes und durchaus ökonomisches Ganzes", erklärt Martin Heintel vom Institut für Geographie und Regionalforschung, der gemeinsam mit Norbert Weixlbaumer und Werner Dietl die umfassende EU-Studie durchführte.

Der große Umbruch

Viele Jahrzehnte blieb der Vierkanter die prägendste Wirtschaftsform des Mostviertels, doch mit Beginn der Agrarrevolution in den 1950er Jahren begann auch sein langsamer Abstieg. "Landwirtschaftliche Maschinen wurden größer, sie passten nicht mehr in die Hofeinfahrt. Generell kam es damals zu strukturellen Veränderungen, wie größere Anbauflächen, höhere Produktion, immer bessere Infrastruktur – lauter Faktoren an die der in sich geschlossene Vierkanthof nicht optimal angepasst war", so Heintel: "Eines ist er jedoch bis heute: unweigerlich verwurzelt mit der Region und identitätsstiftend für die lokale Bevölkerung. Er ist nach wie vor ein wichtiges Kulturgut."


Vierkanter-Ausstellung im Stift Seitenstetten: Im 900-Jahre alte Benediktinerstift Seitenstetten können BesucherInnen noch bis 4. November 2012 die Sonderausstellung "Leben im Vierkanthof – wo Bauern und Mönche beten und arbeiten!" besichtigen. Nähere Informationen 



Vielseitige Nutzungen

In ihrer von der EU geförderten Pilotstudie zum Status Quo der Vierkanthöfe in der Region Haag dokumentierten die Geographen Heintel, Weixlbaumer und Dietl alle 207 Höfe. Vier wesentliche Nutzungsprofile konnten sie dabei identifizieren: verlassene, beharrende, spezialisierte sowie umgebrochene Vierkanthöfe. "Verlassene Höfe machen dabei nur einen kleinen Teil aus", betont Norbert Weixlbaumer: "Die meisten Landwirte haben sich spezialisiert, viele Höfe wurden auch umgebaut und einer anderen Nutzung zugeführt, z.B. werden sie als Büros oder Herbergen genutzt." In den sogenannten beharrenden Vierkanter leben heute zumeist ältere Leute, die versuchen das Bestehende zu retten und zu erhalten. Das ist oft nicht so einfach, da ein Vierkanthof ein Dauerprojekt ist: Ist das Dach erneuert, beginnt der Putz abzubröckeln. So hat der größte Vierkanthof im Mostviertel, in St. Valentin, alleine auf der Vorderseite 41 Fenster, insgesamt weit über hundert. Da lässt es sich leicht vorstellen, dass es immer Arbeit am Haus gibt. Ein Landwirt trifft es auf den Punkt: "Ein Vierkanthof ist immer eine Baustelle."

Ausweg Spezialisierung

Die "erfolgreichsten" BesitzerInnen von Vierkanthöfen haben sich in der Landwirtschaft spezialisiert und so eine Nische für sich gefunden, sei es im Biolandbau, in der Umstrukturierung zu Großbetrieben oder in der Intensivierung von Mostanbau, der in manchen Regionen durchaus noch eine Rolle spielt. Drei Betriebe erzeugen heute Schnaps in großem Stil. Auch eine Nutzung abseits der Landwirtschaft – z.B. Pensionen, Ferienwohnungen, Büros, etc. – hat sich bewährt.

Zusammenarbeit vor Ort


Die Geographen haben im Zuge ihrer Recherchen, die sie gemeinsam mit Studierenden durchführten, jeden der insgesamt 207 Vierkanthöfe besucht und die BesitzerInnen interviewt, um mehr über die Hintergrundgeschichte und die Zukunftsaussichten zu erfahren. "Wir wurden mit offenen Armen empfangen. Den Leuten aus der Region ist dieses Kulturgut sehr wichtig und so wurde die Studie nicht nur begrüßt, sondern aktiv unterstützt", so Heintel. Die Ergebnisse wurden auch als Buch ("vierkanter haag. entwicklungsperspektiven eines regionalen kulturgutes") veröffentlicht; heute ist es bereits ausverkauft, so groß war die Nachfrage. "Die Menschen sind stolz auf ihre Vierkanthöfe – mittlerweile sind die Höfe keine Prestigesache mehr, sondern durchwegs identitätsstiftend." (td)

Die Pilotstudie (Vollerhebung) zur Erfassung aller 207 Vierkanthöfe in der Region Haag wurde von den Geographen Martin Heintel, Norbert Weixlbaumer und Werner Dietl 2011 durchgeführt und kürzlich abgeschlossen. Mit  finanzieller Unterstützung von Bund, Land, Europäischer Union, LEADER Region Tourismusverband Moststraße, Stadtgemeinde Haag und der Universität Wien.