Die verlorene Sprache

Vor hundert Jahren rissen sich die europäischen Kolonialmächte die Kunstschätze der Seidenstraße unter den Nagel – unter anderem Handschriften, die den bis dahin unbekannten Sprachzweig des Tocharischen bezeugen. Die START-Preisträgerin Melanie Malzahn erstellt nun erstmals eine Gesamtedition.

Im äußersten Nordwesten Chinas liegt das Tarimbecken. Vor 120 Jahren war das heutige Gebiet Xinjiang für die europäischen Kolonialmächte noch ein weißer Fleck auf der Landkarte. Mit dem Hintergedanken, dort viele buddhistische Kunstschätze zu entdecken, schickten Deutschland, England und Frankreich – später auch Japan und Russland – Expeditionen an die Seidenstraße. Unter den Kunstschätzen befanden sich Handschriften einer unbekannten Sprache, die z.T. in Höhlen gefunden wurden und den Entdeckern große Rätsel aufgaben.


Dieser Artikel erschien im Forschungsnewsletter April 2012.
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Ein Sensationsfund


In Kisten verfrachtet wurden die – zum Teil aus dem 3. Jahrhundert stammenden – Schriften nach Europa verschifft. 1908 gelang den Berliner Indologen Emil Sieg und Wilhelm Siegling schließlich deren Entzifferung und damit die Entdeckung eines neuen Sprachzweigs der indogermanischen Sprachfamilie: "Eine Sensation. Vor allem, weil das Tocharische mehr Ähnlichkeiten mit europäischen als mit asiatischen Sprachen aufweist", erzählt Melanie Malzahn, START-Preisträgerin 2010 und seit März 2012 Professorin für Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft.

Zwei eigene Sprachen


Mitte des 1. Jahrtausends – mit der Ausbreitung des Buddhismus an der Seiden-straße – entwickelte sich das Tocharische in der heutigen Provinz Xinjiang zur Kultursprache. "Es wird zwischen Tocharisch A im Osten der Seidenstraße und Tocharisch B im Westen – dem ehemaligen Königreich Kucha – unterschieden", geht die Sprachwissenschafterin ins Detail. Dabei handelt es sich um zwei eigenständige Sprachen.


Die tocharischen Handschriften stammen aus verschiedenen Fundorten: In der Nähe der Tausend-Buddha-Höhlen von Kizil liegt Subeši, ebenfalls Teil des ehemaligen Königreiches Kucha. (Foto: Kristin Meier)



Nach dem 1. Jahrtausend wurde die buddhistische Kultur an der Seidenstraße schrittweise durch den Islam abgelöst – Tocharisch war als Kirchensprache nicht mehr interessant und wurde immer weniger gesprochen. Die jüngsten tocharischen Schriften stammen aus dem 12. Jahrhundert.

Internationale Kooperation

Die Begeisterung für tocharische Schriften hat die gebürtige Hamburgerin Melanie Malzahn bereits während ihres Studiums an der Universität Wien entdeckt und sich schon damals ein ganz besonderes Projekt zum Ziel gesetzt: eine Online-Edition der tocharischen Schriftdokumente. "Da es im Tocharischen immer wieder Neuinterpretationen gibt, wäre eine Buchedition nicht sinnvoll, da sie ständig überarbeitet werden müsste", so die junge Professorin. Mit ihrem Team – und in Kooperation mit WissenschafterInnen u.a. aus Schweden, Paris, London und Frankfurt – will sie bis 2017 die gesamten bekannten tocharischen Handschriften im Internet herausgeben.


Es gibt nur wenige ExpertInnen weltweit, die Tocharisch – und somit auch dieses Handschriftenbild aus der Londoner Sammlung – lesen können. (Foto: British Library/London)



Eine solche offen zugängliche Edition ist nicht nur für die Sprach- sondern auch für die Kultur- und Religionswissenschaften sowie viele weitere Disziplinen ein großer Zugewinn. Denn unter den literarischen Texten finden sich viele Fragmente mit Klosterregeln, Predigten Buddhas, philosophischen Abhandlungen sowie medizinischen oder historischen Texten und Gedichten – alle beeinflusst vom indischen Buddhismus. "Sprachlich sind aber die weltlichen Texte weit interessanter, da sie näher an der Umgangssprache sind – aber deswegen auch wesentlich schwerer zu entziffern", sagt Malzahn.

Materialistisches Denken

Im Buddhismus der Tocharer finden sich – im Vergleich zur heutigen Form –
interessante Eigenheiten: "Eine der Schriften beinhaltet einen 'Spendenkatalog', quasi eine Liste mit 'Tipps', was man einem buddhistischen Kloster schenken könnte, und welche Belohnung es für jedes Geschenk in diesem und im nächsten Leben gibt", nennt die Forscherin ein kurioses Detail. Ganz oben auf der Geschenkeliste rangierte der Sonnenschirm – wer einen solchen stiftete, dem winkte die Wieder-geburt als Gottheit. "Wer hingegen ein Parfum spendete, durfte hoffen, im nächsten Leben sehr attraktiv zu werden", schmunzelt die Expertin.

Ständig im Fluss

Am Ende soll das Projekt zum Selbstläufer werden. "Die tocharische Grammatik verstehen wir schon sehr gut – die Wortinterpretationen können sich aber mit jedem Text ändern", betont Malzahn. Bisher ist nur ein Bruchteil der Schriften ediert. Die meisten liegen noch in Kisten verpackt in Berlin, London, Paris und St. Petersburg – sowie zum Teil auch in China, wo es darüber hinaus immer wieder Neufunde gibt. "Uns steht also neben dem Entziffern und Analysieren auch noch eine große bürokratische Herausforderung bevor." Mit ihrem "Open Access"-Forschungsansatz will die Sprachwissenschafterin die übersetzten und kommentierten Texte für jeden – nicht nur für ExpertInnen – zugänglich machen. (ps)

Univ.-Prof. Mag. Dr. Melanie Malzahn, START-Preisträgerin des FWF, ist seit März 2012 Professorin für Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft am Institut für Sprachwissenschaft. Sie leitet das Projekt "Eine Gesamtedition tocharischer Handschriften", das von 1. Februar 2011 bis 31. Jänner 2017 – vorbehaltlich der erfolgreichen Zwischenevaluierung – läuft. ProjektmitarbeiterInnen sind Dr. Michaël Peyrot, Mag. Theresa Illès, Ulrike Steindl M.A. sowie Martin Braun. Internationale KooperationspartnerInnen sind Gerd Carling, Universität Lund, Georges-Jean Pinault, École Pratique des Hautes Études Paris, sowie Christiane Schaefer, Universität Uppsala.