Die unorthodoxe Baugeschichte des Wiener Wahrzeichens

Kunsthistorikerin Barbara Schedl gelang es zu rekonstruieren, dass die 300 Jahre lange Baugeschichte der Stephanskirche teilweise völlig anders verlief als bislang angenommen. Im Gespräch mit uni:view erklärt sie zudem, weshalb der "Steffl" eines der ersten "Crowdfunding-Projekte" der WienerInnen war.

Eine "aufgewühlte KunsthistorikerInnen-Community" sei es gewesen, die 2007 die Initialzündung zu einem Forschungsprojekt zur Baugeschichte der Stephanskirche geliefert hat, erzählt Barbara Schedl vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Denn da erschien ein Buch des Karlsruher Architekturhistorikers Johann Josef Böker, in dem dieser mehrere gängige Lehrmeinungen zum Thema "Steffl" infrage stellte, u.a. die Rolle Rudolphs IV. als Triebfeder hinter dem Bau.

Eine im Jahr 2011 an der Universität Wien vom Institut für Kunstgeschichte organisierte Tagung nahm sich schließlich der Thematik an und stellte schnell eine Forschungslücke fest. "Dass es noch nie Grundlagenforschung zur Baugeschichte St. Stephans gegeben hat, machte sowohl die österreichische als auch die internationale Fachwelt nervös", so Barbara Schedl.

"Die Bezeichnung 'Stephansdom' ist für die Zeit der Entstehung des Kirchenbaues nicht korrekt", klärt Barbara Schedl auf. Denn erst als 1469 St. Stephan Sitz des Bischofs wurde, spricht man von "Stephansdom". (Foto: Daguerreotyp. Stefansdom, Wien/Tekniska museet/CC BY 2.0)

Neue Forschungsmethoden

Barbara Schedl war es schließlich, die beim FWF im Jahr 2012 ein dreijähriges Forschungsprojekt genehmigt bekam. Über die Methodik der Schriftquellenanalyse kam die Kunsthistorikerin im Verlauf des Projekts dem Rätsel des Bauprozesses Stück für Stück näher. Und erkannte schnell, dass die Kirchenbaustelle lange Zeit ein Flickwerk gewesen ist, auf der Alt neben Neu existierte. Insgesamt wurden über 2.500 Quellen systematisch gesammelt und analysiert – Urkunden, Rechnungen, Verwaltungsschriften, aber auch erzählende Quellen über die Stephanskirche aus dem 12. Jahrhundert bis zur Einstellung des Baus in der Mitte des 16. Jahrhunderts.

Mit der problemorientierten Schriftquellenanalyse verfolgte Schedl gemeinsam mit ihrem Projektteam einen eher ungewöhnlichen Forschungsansatz, ist doch eigentlich die Objektanalyse in der Kunstgeschichte das bevorzugte Instrument.

Barbara Schedl mit einem kleinen Teil der insgesamt über 2.500 gesammelten und elektronisch archivierten historischen Schriftquellen. Im Hintergrund ist der Grundriss der Wiener Stephanskirche mit Kennzeichnung verschiedener Bauphasen zu sehen. (Foto: Universität Wien)

Komplexer mittelalterlicher Baubetrieb

"Wie die einzelnen Bauabschnitte funktioniert haben, ist mir jetzt klar", stellt Barbara Schedl zufrieden fest. Anhand der intensiven Analyse der Schriftquellen ist es ihr gelungen herauszustellen, dass auch bereits nicht fertiggestellte Bauplätze mit Hilfe von Provisorien für religiöse Zeremonien genutzt wurden.

So wurden etwa Fensteröffnungen mit Tierhäuten geschlossen, Dächer mit Schindeln statt mit Ziegeln gedeckt und halbfertige Plätze mit Lattenwänden vom Rest der Baustelle getrennt – dazwischen wurde auch mitunter Neues ergänzend gebaut oder bereits Messen gelesen. Dies steht im Widerspruch zu den bisherigen historischen Rekonstruktionen, die einen partiellen Bauprozess ausgeschlossen hatten. "Ganz unorthodox und komplex spielte sich der Bau ab", so Schedl.

Auszüge einer Kirchmeisterrechnung von 1412, in der die Ausgaben für den Kauf von Steinen, Sand, Kalk und Holz vermerkt sind. Rechnungen stellten sich im Zuge der Schriftquellenanalyse als besonders wichtiges und ergiebiges Quellenmaterial da, um alle Zusammenhänge der Baugeschichte nachvollziehen zu können. (Foto: Dom- und Diözesanmuseum, Wien; Leihgabe an Stephansdom).


Die Top-Baustelle der Gotik als Wirtschaftsfaktor

Besonders wichtig sei die Erkenntnis, dass die Langzeit-Baustelle von Beginn an voll im Alltag der WienerInnen integriert war, denn die Baugeschichte könne nicht isoliert von der Lebenspraxis gesehen werden: "Der mittelalterliche Mensch hat nicht die Architektur im Kopf gehabt und sich dann erst eingerichtet, sondern es ist primär darum gegangen, dass man sich einen Ort für die Liturgie sucht – für das Ritual, für den Kult", so die Kunsthistorikerin.

Aber auch abseits der religiösen Nutzung der halbfertigen Kirche spielte sich in und um den "Steffl" das Leben ab: So wurden etwa zahlreiche Gebote erlassen, den umgebenden Friedhof nicht als Tanzfest-Örtlichkeit zu benutzen und dort keinen Wein mehr auszuschenken. Und auch die Universität Wien hielt im 14. und 15. Jahrhundert ihre Versammlungen in St. Stephan ab, dies belegen Promotions- und Sitzordnungen.

Letztlich kann die Elite-Baustelle der Gotik, die sich u.a. mit Anton Pilgram oder Laurenz Spenning "Stararchitekten" holte, als wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Stadt Wien angesehen werden: Generationen von WienerInnen, Baukünstlern, Polieren, Steinmetzen und Handwerkern haben von dem Bau gelebt und das über 300 Jahre lang.

Eine Kirche für und von WienerInnen

St. Stephan hatte auch für die staatliche Obrigkeit eine gewisse Bedeutung. So bestimmte etwa der im 14. Jahrhundert regierende Rudolf IV., der Stifter, dass die ursprüngliche Pfarrkirche der WienerInnen nun auch Grabliege der Habsburger werden soll, dirigierte Steuern um oder verpflichtete Klöster zu Spenden für den Ausbau. "Aber eigentlich war der Bau hauptsächlich nur von BürgerInnen über Spenden für Messen oder ihr ewiges Gedenken finanziert. Die Stephanskirche ist also wirklich DIE Wiener Kirche", resümiert Barbara Schedl ihre Forschungen, deren Ergebnisse in zwei großen Monographien veröffentlicht werden sollen. Somit kann der Bau des "Steffls" wohl als eines der ersten großen "Crowdfunding-Projekte" der Wiener Bevölkerung angesehen werden.

Die Kunsthistorikern und Expertin für (früh)mittelalterliche Architektur und Liturgie Barbara Schedl leitete das vom FWF geförderte Projekt "St. Stephan in Wien. Architektur der Schriftquellen" (2012-2015). Nach erfolgreichem Abschluss wurden die Forschungen im Oktober 2015 mit einem Nachfolgeprojekt zu "Bildwerken und Kultobjekten im Kontext zu den Schriftquellen" erneut vom FWF bewilligt.