Die Jäger der "verlorenen" Bücher Ludwig Tiecks

Über 17.000 Bände sammelte der Schriftsteller Ludwig Tieck. Doch seine Bibliothek wurde 1849/50 durch eine Auktion in alle Richtungen verstreut. In einem aktuellen FWF-Projekt begeben sich die Literaturwissenschafter Achim Hölter und Paul Ferstl von der Universität Wien auf Spurensuche.

Ludwig Tieck (1773-1853) war begeisterter Sammler. Der deutsche Schriftsteller (u.a. "Der gestiefelte Kater") und Übersetzer (u.a. Shakespeare) besaß rund 17.000 Bände. Für Achim Hölter vom Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft stellt die "Bibliotheca Tieckiana" eine protokomparatistische Büchersammlung dar: "Tiecks Ouvre war breit gestreut. Er besaß Bücher aus über zehn Sprachen, aber auch viele literaturgeschichtliche Werke. Kurz gesagt: Tieck sammelte wie ein Komparatist, auch wenn es das Fach Vergleichende Literaturwissenschaft damals noch nicht gab." Aus diesem Grund gilt Ludwig Tieck als einer der Gründerväter der Komparatistik.

Heutzutage eher unbekannt


Auch wenn Tieck zu seiner Zeit zu den berühmten Zeitgenossen zählte, ist er heutzutage im kollektiven Gedächtnis nicht unbedingt verankert. "Dabei war Tieck nicht nur Autor und Übersetzer, sondern auch Erfinder von mindestens vier bis fünf literarischen Genres – beispielsweise der romantischen Lyrik und des romantischen Romans. Dass er heutzutage nicht so berühmt ist wie z.B. Goethe oder Kafka, liegt wohl daran, dass er nicht den einen berühmten Text geschrieben hat", erklärt Achim Hölter, der sich bereits in seiner Dissertation mit Tieck beschäftigte.

Zudem hatte Tieck das "Pech", dass alle potenziellen Gedenkstätten, wie sein Geburtshaus in Berlin, seine Wohnung am Dresdner Altmarkt oder seine letzte Wohnung, wiederum in Berlin, im Zweiten  Weltkrieg zerstört wurden.

Detektivarbeit

So ist bislang auch wenig über Tiecks Bibliothek bekannt. Projektleiter Achim Hölter und Projektmitarbeiter Paul Ferstl möchten das durch ihr aktuelles FWF-Projekt ändern. Ihr Ziel ist die Erstellung einer digitalen Datenbank der umfangreichen Dichter-Bibliothek. Doch die Autopsie der Bücher gestaltet sich als Detektivarbeit, denn Tieck verauktionierte kurz vor seinem Tod seine gesamte Sammlung, wodurch die Bücher in etliche Länder und Hände verstreut wurden.

Der wichtigste Anhaltspunkt für die beiden Komparatisten ist der Auktionskatalog von 1849. "Wir wissen inzwischen, dass die Wiener K.K. Hofbibliothek über 330 Titel erstand, ebenso gelangte ein großer Posten von mehreren tausend Bänden an die British Library nach London. Einzelne Texte gingen – unter anderem über mehrere Stationen – auch nach Berlin, Breslau, Krakau, St. Petersburg und in andere Städte. Zudem gelangten viele Bände in Privatbesitz", erklärt Projektmitarbeiter Paul Ferstl.

Im Rahmen des Projekts konnte unter anderem dieses Originalexemplar des Auktionskatalogs von 1849 erworben werden. Wieso Tieck seine Bücher verkaufte, ist unklar. "Manche vermuten Depressionen, andere Schulden des Bruders, wiederum andere sehen es als Vorbereitung zur Regelung des Nachlasses."

Auf Spurensuche

Wie für Ludwig Tieck das Sammeln von Büchern Lebensmittelpunkt war, steht heute für Achim Hölter und Paul Ferstl von der Universität Wien das digitale Sammeln seiner Bücher im Mittelpunkt. Bei ihren Recherchen arbeiten sie u.a. mit der Tieck-Arbeitsstelle in Dresden sowie der Österreichischen Nationalbibliothek zusammen.

"Anhand der Verteilung von Tiecks Büchern können wir beispielhaft 150 Jahre Bibliotheksgeschichte nachvollziehen", so Paul Ferstl. Denn durch das Aufspüren der Tieckschen Büchersammlung können auch Fragen wie z.B. nach der Professionalisierung von Bibliotheken im 19. Jahrhundert, den Funktionsweisen von Buchhandel und -auktionen etc. beantwortet werden.

Ein Indiz auf VorbesitzerInnen eines Buches sind u.a. Widmungen. Die abgebildete Dedikation Tiecks besagt: "Diese sehr seltene Ausgabe schenkte mir im Frühling 1794 mein Freund Wackenroder, der sie für mich in einer Auction in Altenburg erstanden hatte. Die Bemerkungen und Striche im Werk rühren von mir her." (Bild: Chaucer, Geoffrey: The works, newly printed, with divers workes whiche were never inprint before, Scan: Paul Ferstl)

Bücher im Strudel der Zeitgeschichte

Neben der Verteilung der Bücher haben Achim Hölter und Paul Ferstl auch eine weitere Hürde zu meistern: Nach dem Verkauf seiner umfangreichen Bibliothek 1849 begann Tieck erneut Bücher zu sammeln. Diese zweite Sammlung ging nach Tiecks Tod 1853 in den Besitz des Grafen Yorck von Wartenburg über, der mit ihnen die Bibliothek für sein Schloss in Schlesien ausbaute.

Schematische Darstellung der Tieckschen Bibliotheksverkäufe. (Grafik: Achim Hölter und Paul Ferstl)

Auf der Suche nach den Büchern dieser zweiten Sammlung entwickelte sich ein intensiver Kontakt zu Yorcks Nachfahren. "Schon Ende der 1980er korrespondierte ich mit Paul Graf Yorck, der in den 1940er Jahren im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv war. Dieser schrieb mir in seinem ersten Brief: 'Nach dem 20. Juli 44 wurde mein Bruder hingerichtet, ich ohne Prozess nach halbjähriger Gestapohaft zum Volks- und Staatsfeind erklärt, enteignet und in das KZ Sachsenhausen verbracht, habe also nichts retten können.' So weht auch immer ein Hauch von Zeit- und Familiengeschichte in das Projekt hinein", berichtet Achim Hölter.

Bibliotheken als Wissensordnungen

Bislang haben die Wissenschafter etwa 15 Prozent der Tieckschen Sammlung in Bibliotheken ausgeforscht, autopsiert und die Ergebnisse in die digitale Datenbank eingearbeitet, die bereits alle Titel des Tieck-Katalogs enthält. Tausende Titel und Bände werden noch laufend autopsiert.

Achim Hölter und Paul Ferstl resümieren: "Tiecks Bibliothek steht exemplarisch für die Geschichte der Komparatistik und die Geschichte der Literatur im 19. Jahrhundert. Für Tieck war seine Bibliothek eine Art autobiographisches Archiv. Unsere virtuelle Rekonstruktion bildet diese bibliografisch ab und macht sie für die Wissenschaft zugänglich." (mw)

VERANSTALTUNGSTIPP:
Die Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft ist Gastgeber des 21. Weltkongresses der International Comparative Literature Association. Die Konferenz, die unter dem Motto "Die vielen Sprachen der vergleichenden Literaturwissenschaft" steht, findet vom 21. bis 27. Juli 2016 an der Universität Wien statt. Mehr Informationen 

Das FWF-Projekt "Ludwig Tiecks Bibliothek. Anatomie einer romantisch-komparatistischen Büchersammlung" läuft vom 1. Oktober 2014 bis zum 30. September 2017. Projektleiter ist Univ.-Prof. Dr. Achim Hermann Hölter, Privatdoz. M.A. vom Institut für Komparatistik, MitarbeiterInnen am Institut sind Mag. Paul Ferstl, Constanze Prašek, B.A. und Theresa Schmidt, B.A., an der ÖNB Mag. Katharina Gratz. Kooperationspartner in Dresden sind Prof. Dr. Walter Schmitz (Dresden) und Prof. Dr. Thomas Köhler (Medienzentrum TU Dresden) sowie KollegInnen in Russland, Polen usw.