Die galoppierenden Gletscher vom Himmelsgebirge

Surge-Gletscher sind Gletschertypen, die plötzlich enorm an Fließgeschwindigkeit zunehmen. Sie machen nur ein Prozent aller Gletscher weltweit aus. Hermann Häusler von der Universität Wien entdeckte im Rahmen eines EU-Projekts erstmals einen dieser außergewöhnlichen Gletscher in Kirgistan.

Mit 125 Metern Fließgeschwindigkeit pro Tag zählt der Surge-Gletscher Brúarjökull in Island zum schnellsten bis dato gemessenen galoppierenden Gletscher. Gehäuft kommt diese besondere Gletscherart in Alaska, Kanada, Island, Spitzbergen und im Pamir vor. Oft ruhen die Eismassen mehrere Jahrzehnte bis zu mehreren Jahrhunderten, plötzlich kommt es dann zu einer aktiven Phase, in der der Gletscher bis zu hundert Mal schneller fließen kann – diese Phase dauert in der Regel zwischen zwölf Monaten und 15 Jahren.

Am Dach des Himmels

Gletscherexperte Hermann Häusler vom Department für Umweltgeowissenschaften sorgte jüngst für einen überraschenden Fund: Er entdeckte im Rahmen eines EU-Projekts im kirgisischen Teil des Tian Shan-Gebirges einen galoppierenden Gletscher. "In dem Projekt ging es primär darum, ein Klimamodell für die Gletscher im Tian Shan – auf Deutsch Himmelsgebirge genannt – zu entwickeln, auch um möglichen Katastrophen wie Überflutungen, etc. besser vorhersagen zu können", erklärt Häusler: "Dass wir dabei dann auf einen galoppierenden Gletscher stoßen würden, war auch für uns eine Riesenüberraschung."

Für Surge-Gletscher ist nicht nur die Gegend ungewöhnlich, auch das Aussehen des kirgisischen Gletschers unterscheidet sich von den bis dato bekannten: "Normalerweise erkennt man sie daran, dass sie an der Oberfläche einen großen Buckel aufweisen, der sich dann wie eine Welle nach unten verschiebt", erklärt der Umweltgeologe: "Diesen Buckel hat Inylchek nicht gehabt, deshalb hat ihn vorher auch niemand als pulsierenden Gletscher erkannt. Wir konnten mit aufwändigen Messverfahren herausfinden, dass es sich dabei um einen Spezialtyp handelt."

Rapider Vorstoß in den 1990ern

Hermann Häusler nahm den Gletscher Inylchek für die Klimamodell-Erstellung zunächst genauer unter die Lupe, da dieser als einer der wenigen von rund 8.000 Gletschern in Kirgistan recht gut erforscht ist. "Erste Aufzeichnungen stammen vom bayrischen Forscher Gottfried Merzbacher aus dem Jahr 1902, ab 1943 haben wir dann Zeitreihenanalysen von Fernerkundungsdaten, mit Hilfe derer wir die Geschichte vom Inylchek rekonstruieren können", so Häusler.



Mitte der 1940er Jahre erfolgte bis Anfang der 1990er Jahre ein kontinuierlicher Gletscherrückgang von insgesamt vier Kilometern – das sind etwa 100 Meter Rückzug pro Jahr. Im Herbst 1996 geriet der abgeschmolzene Gletscher plötzlich in Bewegung, und im Sommer 1997 erreichte er wieder seine Ausgangsposition von 1943. Aufgrund der – für einen Gletscher – enormen Geschwindigkeit, mit der sich Inylchek in nur wenigen Jahren wieder in seine Ursprungsposition zurück bewegte, vermutete Häusler einen "Surge": Daraufhin recherchierte der Gletscherexperte alle Daten, die er über Inylchek finden konnte – so kaufte er auch Fotos von Spionagesatelliten der USA und Japan. "Das war wirklich Detektivarbeit", schmunzelt Häusler.

Die Rekonstruktion

Kein Wunder, dass niemand vor Häusler erkannte, dass es sich bei Inylchek um einen galoppierenden Gletscher handelt, ist es doch eine ganz besondere und seltene Form davon: "Wir konnten durch unsere Analysen herausfinden, dass der Surge beim kirgisischen Gletscher durch die Ablösung der abschmelzenden Gletscherstirn vom Untergrund ausgelöst wurde." Weiters hat Häusler herausgefunden, dass obwohl der Klimawandel großen Einfluss auf das Abschmelzen der Gletscher hat, dieser in Kirgistan nicht für Surges verantwortlich ist.

Zukunftsaussichten

Häuslers Rekonstruktion ist nicht nur wissenschaftlich hoch interessant, auch für die lokale Bevölkerung Kirgistans und des angrenzenden Chinas, wohin der Inylchek Fluss abfließt, sind die Daten für die Zukunft wichtig. So kam es während des Surge in den 1990er-Jahren zu massiven Überschwemmungen auf chinesischer Seite.

"Wir sind jetzt gerade dabei, Zukunftsprognosen zu erstellen. Ich gehe aufgrund unserer Messdaten davon aus, dass ein weiterer Surge in den nächsten Jahren durchaus realistisch ist. Je genauer wir diesen vorhersagen können, desto besser können die betroffenen Länder darauf reagieren, z.B. um im Extremfall die lokale Bevölkerung zu evakuieren", so Häusler abschließend. (td)

Den Impuls für Hermann Häuslers Erstellung von Klimamodellen für das Tian Shan-Gebiet gab das bis 2012 laufende EU-Projekt "Impact of climate change and related glacier hazards and mitigation strategies in the European Alps, Swedish Lapland and the Tien Shan Mountains, Central Asia". Im Rahmen dessen entdeckte er den Inylchek-Surge und erstellte detaillierte Rekonstruktionen und Prognosen, an denen er bis heute arbeitet. Diese werden gerade im Fachjournal "Geomorphology" publiziert.