Die ausgeglichene Seeanemone

Wenn sie essen, wachsen sie, wenn sie nicht essen, schrumpfen sie. So simpel reagiert die Seeanemone auf Nahrung per se. Wie genau das Gleichgewicht zwischen Nahrungsaufnahme und Wachstum aufrechterhalten wird, untersucht Patrick Steinmetz von der Universität Wien in seinem aktuellen FWF-Projekt.

"Schon seit meiner Dissertation fasziniert es mich, wie aus einem 'Zellhaufen' komplexe Lebewesen entstehen können", erklärt Patrick Steinmetz von der Universität Wien. Er habe sich auf Evolutionsbiologie spezialisiert, da ihn "die Frage, warum etwas funktioniert, fast noch mehr begeistert als das Wie", und gibt gleich ein anschauliches Beispiel: "Jeder von uns hat schon einmal Schluckauf gehabt. Was dabei passiert, das weiß man genau: eine Kontraktion des Zwerchfells mit Stimmlippenverschluss. Aber warum es beim Menschen dazu kommt, lässt sich nur beantworten, wenn man weiß, dass unser gesamtes Atemsystem auf jenem unserer Urahnen, dem Kiemen- und Lungensystem von Kaulquappen-ähnlichen Tieren, aufbaut."

Idealer Modellorganismus

Doch zurück zum Lieblingsforschungstier von Patrick Steinmetz, der Seeanemone Nematostella vectensis. Sie ist für EvolutionsbiologInnen ein idealer Modellorganismus, da sie sich – im Gegensatz zu allen Wirbeltieren – entwicklungsgeschichtlich über mehrere hundert Millionen Jahre kaum in ihrem Körperbau verändert hat. Sie besteht aus nur zwei Keimblättern, besitzt kein Gehirn und keine Organe, und ist also sehr simpel strukturiert. Gleichzeitig ist ihre genetische Landkarte der des Menschen gar nicht so unähnlich.

"Stoffwechselvorgänge und deren Steuerung, die beim Menschen unglaublich komplex sind, lassen sich in der Seeanemone sehr gut untersuchen. Da fällt es uns leichter, Hormonsignale zu erkennen und zu deuten, als in dem komplexen 'Signal-Wust' des Menschen", so Steinmetz: "Zudem können wir aus der Untersuchung von Seeanemonen sehr viel über die frühe Entstehungsgeschichte komplexer Stoffwechselvorgängen bei Tieren lernen."

Wichtige Balance

Seeanemonen besitzen genau einen Hohlraum, und in diesem verdauen sie auch ihre Nahrung (kleine Krebse, Plankton, etc.); was nicht verdaut wird, spucken die kleinen Tierchen einfach wieder aus. Sie verfügen zwar über keine Organe, aber ihr Hohlraum lässt sich durchaus mit einem Darm vergleichen. Trotz ihres sehr einfachen Körperbaus kann die Seeanemone Nährstoffe aus der Nahrung in speziellen Bereichen des Körpers speichern, um sie bei Bedarf dem Organismus wieder zur Verfügung zu stellen. Nährstoffe sind quasi das Benzin für den Lebensmotor. Deren richtige Balance ist essenziell für alle Lebewesen; gerät sie außer Kontrolle, kann beim Menschen z.B. Fettleibigkeit oder Diabetes entstehen. "Nur durch die Verdauung und Speicherung der Nährstoffe sowie ihre Freisetzung bei Bedarf sind wir überhaupt erst lebensfähig", erklärt der Evolutionsforscher.


Ein junger Nematostella Polyp beim Beutefang eines Salzkrebschens ist bereits mit Nahrung vollgestopft (links). Rechts ein nicht gefütterter Polyp (rechts). (Foto: Patrick Steinmetz)



Auch eine Bauchspeicheldrüse, in der bei Menschen das für die Kontrolle der Zuckerspeicherung so wichtige Insulin erzeugt wird, haben Seeanemonen nicht. Sie besitzen jedoch Insulin-ähnliche Moleküle,  so genannte "Insulin-like peptides" (ILP), die ähnliche Aufgaben übernehmen könnten. Ob ILP-Moleküle in Seeanemonen eine vergleichbare Rolle wie beim Menschen spielen, nämlich die Aufnahme und Speicherung von Nährstoffen in die Zellen zu regulieren, ist bisher völlig offen.

"Mich interessiert nun ganz konkret, wann und wie Speicherzellen der Seeanemonen 'merken', dass sie Nahrung aufnehmen, oder bei Hunger wieder dem Organismus zur Verfügung stellen sollen. Im laufenden FWF-Projekt untersuche ich eine mögliche Verbindung zwischen ILP-Molekülen und der Speicherung und Freisetzung von Zucker, Fett und Proteinen. Wir könnten damit klären, ob ILP-Moleküle möglicherweise entscheidend dazu beigetragen haben, dass komplexere Tiere und ihre energiehungrigen Organe wie Muskeln oder Gehirne überhaupt erst entstehen konnten", erklärt Steinmetz seine wesentliche Forschungsfrage: "Ohne ein System der Nährstoffspeicherung würden die allermeisten Tiere aufgrund ihres hohen Energiebedarfes schlicht verhungern."

Experimentelle Seeanemone

Um seine Forschungsfragen zu beantworten, arbeitet Steinmetz mit Seeanemonen, die im Biozentrum der Universität Wien in der Althanstraße gezüchtet werden. In einem seiner Experimente regt der Evolutionsbiologe etwa eine dauerhafte Insulinausschüttung an, in einem anderen unterbindet er sie. Dann schaut er, wie die Tiere darauf reagieren: "Wachsen sie weiter, wachsen sie schneller oder langsamer oder hat unser Eingriff gar keinen Effekt?"


Drüsenzellen der inneren Zellschicht von Seeanemonen, die Insulin-ähnliche Moleküle (blau) oder Trypsin-ähnliche Verdauungsenzyme (rot) produzieren. (Foto: Patrick Steinmetz)



In einer weiteren Versuchsreihe werden den nur zwei bis fünf Zentimeter langen Tierchen fluoreszierende Gene eingeschleust, so dass zum Beispiel nur jene Zellen leuchten, die Insulin produzieren. In den Zellen, die die Nährstoffe dann aufnehmen, können die Insulinrezeptoren dann wiederum an- oder ausgeschaltet werden. "So wollen wir die Rolle des Insulins während des gesamten Prozesses der Nahrungsaufnahme, -speicherung und -abgabe hinweg verstehen."

Auf der Suche nach mehr

Im Projekt setzt sich Patrick Steinmetz aber nicht ausschließlich mit der Rolle von Insulin bzw. ILP-Molekülen auseinander, er macht sich auch auf die Suche nach anderen, bisher unbekannten Molekülen für Nährstoffbalance und Nährstoffspeicherung. Auch hier hofft er, in der einfach gestrickten Seeanemone und einer ihrer entfernten Verwandten, der Ohrenqualle, leichter fündig zu werden als beim komplizierten Menschen, in dem tausende Moleküle zwischen Bauchspeicheldrüse, Darm und Gehirn wie auf einem Datenhighway hin und her flitzen. (td)

Das FWF-Projekt "Der evolutionäre Ursprung der Nährstoffhomöostase bei Tieren" unter der Leitung von Dipl.-Biol. Dr. Patrick Steinmetz vom Department für Molekulare Evolution und Entwicklung der Fakultät für Lebenswissenschaften startete im April 2014 und läuft bis März 2017.