Der mittelalterliche Blick nach Indien

Migration und Diversität sind aktuelle gesellschaftspolitische Themen unserer Zeit. Wie die Menschen im Mittelalter mit "dem Fremden" in Europa und in Indien umgegangen sind, vergleicht Thomas Ertl von der Universität Wien in einem aktuellen WWTF-Projekt.

Es würde wenig überraschen, wenn dieser Nachrichtenbeitrag heute in der ZIB 1 über die Bildschirme liefe: "Die Rajputen-Fürsten Indiens wehren sich gegen  muslimische Invasoren". Doch diese "Meldung" stammt aus dem Mittelalter – der ewige Konflikt in Indien zwischen Moslems und Hindus gipfelte dann im 20. Jahrhundert in der staatlichen Trennung von Indien, Pakistan und Bangladesch. Dass viele historische gesellschaftspolitische Ereignisse oft gar nicht so unterschiedlich zum Heute sind, weiß Wirtschaftshistoriker Thomas Ertl von der Universität Wien, der sich in seinem aktuellen Projekt mit dem historischen Vergleich von Indien und Europa im Mittelalter beschäftigt.

"In diesem Projekt untersuchen wir Fragestellungen, die einen starken Gegenwartsbezug aufweisen – Stichwort Migration", so Ertl. Der Mittelalterforscher vermutet, dass EuropäerInnen und InderInnen auf ähnliche Herausforderungen ähnlich reagierten, besonders spannend sei allerdings, "wie Konflikte und ihre Lösung jeweils rhetorisch, rechtlich und geschichtswissenschaftlich ausgehandelt wurden."

Warum Indien?

Für Ertl sind Europa und Indien besonders gut miteinander vergleichbar: "Europa eint eine gemeinsame kulturelle und religiöse Klammer, gleichzeitig existiert eine ethnische und auch kulturelle Vielfalt", so Ertl: "Für Indien gilt ganz ähnliches – unter der Einheit des Subkontinents gibt es große Diversität.

"Trotzdem wurden diese Regionen bis dato in der historischen Forschung selten in Bezug zueinander gesetzt – eine Tatsache, die den Historiker besonders reizt. "Heute richtet sich Europa ja wieder vermehrt Richtung Asien aus, besonders nach China. Darum blicken auch HistorikerInnen häufig nach China, um ökonomische Unterschiede zu verstehen", sagt der Experte. Indien blieb dabei immer etwas außen vor. Aber das wird sich bald ändern, ist Ertl überzeugt: "Der indische Subkontinent gewinnt wirtschaftlich an Bedeutung; in nicht allzu langer Zeit wird es der bevölkerungsreichste Staat der Welt sein."

Von Wien nach Neu Delhi

Neben seinem wissenschaftlichen Interesse an Indien hat Thomas Ertl auch einen persönlichen Bezug zu diesem großen Land: Hierhin führte ihn seine erste große Reise – direkt nach der Matura – und er blieb ein halbes Jahr: "Damals pilgerte ich von Aschram zu Aschram. Heute, 25 Jahre später, kehre ich wissenschaftlich zurück", schmunzelt der Forscher.

Der Mogul-Herrscher Jahangir empfängt Vertreter verschiedener Religionen. Er regierte von 1605 bis zu seinem Tod im Jahr 1627. (Foto: PD-US) 

Dabei ist ihm der Austausch mit indischen KollegInnen besonders wichtig. Im WWTF-Projekt "Handling Diversity. Medieval Europe and India in Comparison (13th-18th Centuries)" kooperiert die Universität Wien mit der indischen Jawaharlal Nehru Universität in Neu Delhi. "Ein wesentliches Ziel ist es, den Austausch und Kontakt zwischen WirtschaftshistorikerInnen in- und außerhalb Indiens zu intensivieren. Viele indische ProjektpartnerInnen leben nicht mehr in ihrem Heimatland, viele arbeiten in England oder den USA – gemeinsam ist allen, dass sie historisch über Indien arbeiten."


Gesetzlicher Pluralismus

Ein Aspekt, den Thomas Ertl vergleichend untersucht hat, ist die Aushandlung von Konflikten im mittelalterlichen Europa und Indien. Gemeinsamkeiten gibt es viele: "Da wie dort herrschte im Mittelalter ein sogenannter 'Legal Pluralism'. Das heißt, dass es mehrere rechtliche Instanzen der verschiedenen religiösen Gruppen gab, die parallel existierten", so Ertl.

In Indien war dies etwa der muslimische Kadi neben dem hinduistischen Geistlichen, aber auch Adelige und Vertreter des Königs. "In Europa gab es u.a. die Kleriker und das Kammergericht", erklärt der Historiker: "Diese vielen Einheiten existierten bis weit in die Neuzeit nebeneinander. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Rechtssystem vereinheitlicht." Auch hier spannt Ertl den Bogen von der Geschichte in die Gegenwart, etwa zum Spannungsfeld Religionsfreiheit vs. Rechtsstaatlichkeit, und nennt als Beispiel das Thema Kinderbeschneidung oder die Schächtung – das rituelle Schlachten von Tieren – im Judentum und Islam.

Royal Fans

In einem Punkt allerdings unterscheiden sich Indien und Europa bei der Erforschung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: bei der "Monarchie-Begeisterung". In Europa untersuchen HistorikerInnen heute mit besonderem Interesse Formen der Zusammenarbeit von Königen und Fürsten auf der einen Seite und Parlamenten, Ständen und Beratern auf der anderen Seite. Um dieses Verhältnis zu kennzeichnen, wurde ein eigener Begriff geprägt, die konsensuale Herrschaft – also das Zusammenwirken von König und Untertanen im Konsens. In Indien hingegen wird noch heute die zentrale und eigenständige Herrschaft der Moguln und anderer Fürsten betont und als Zeichen für einen "starken Staat"  gesehen. Die Unterschiede liegen weniger in den mittelalterlichen Verhältnissen als in den modernen Interpretationen.

Diverse Kunst

Ziele des Projekts, das heuer mit einer Konferenz an der Universität Wien abgeschlossen wird, sind laut Thomas Ertl zweierlei: ein besseres generelles Verständnis von diversen gesellschaftlichen Lebenswelten in Europa und Indien im Mittelalter zum einen, aber auch ein Näherkommen der internationalen ExpertInnen zum Thema. Die Abschlusskonferenz an der Universität Wien wird Ende dieses Jahres einem "weiteren wichtigen Aspekt" gewidmet sein: der Kunst. "Diversität, Religion und Ethnizität zeigen sich natürlich auch in lateinisch-europäischen und indischen Kunstwerken. Mit den Interpretationen dieser in Bild visualisierten Thematiken werden wir uns auf der Konferenz gemeinsam mit internationalen KollegInnen auseinandersetzen. Ein schöner Projektabschluss", freut sich Ertl. (td)

Das im Rahmen des "Diversität – Identität Call 2011" geförderte Projekt "Handling Diversity. Medieval Europe and India in Comparison (13th-18th Cent. CE)" unter der Leitung von Thomas Ertl vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien läuft bis 2015.