Der lange Weg zum Kristall

Schnee, Eis und Salz: Was im Winter unter unseren Schuhen knirscht, sind unzählige kleine Kristalle. Welche Phasen solche Strukturen bei der Entstehung durchlaufen, erforscht Elise-Richter-Stipendiatin Swetlana Jungblut an der Fakultät für Physik der Universität Wien.

Wenn sich der Aggregatzustand einer Flüssigkeit verändert – beim sogenannten Phasenübergang – spielt der Prozess der Keimbildung (Nukleation) eine wesentliche Rolle. Scheinbar aus dem Nichts können sich dabei in einer Flüssigkeit winzige kristalline Strukturen bilden und wieder auflösen. Erreicht ein solches Kristallgebilde eine kritische Größe, wächst es weiter und bildet schließlich einen Kristall.

Vom Kügelchen zum Kristall

Mit bloßem Auge sind Kristalle jedoch erst sichtbar, wenn die sogenannte Wachstumsphase begonnen hat. Die Elise-Richter-Stipendiatin Swetlana Jungblut von der Gruppe Computergestützte Physik der Universität Wien beschäftigt sich mit dem Schritt davor: Sie untersucht die Entstehungsphase, in der die Kristalle noch mikroskopisch klein sind und noch nicht in die Wachstumsphase übergegangen sind.


Swetlana Jungblut ist Senior Postdoc in der Gruppe Computational Physics an der Fakultät für Physik der Universität Wien. Ihr bisheriger Weg führte sie in ihrem Studium an die Queens University of Belfast und die Ludwig-Maximilian-Universität nach München. In ihrer Dissertation an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz beschäftigte sie sich mit der Forschung zu "Mixtures of colloidal rods and spheres in bulk and in confinement", ehe sie 2008 an die Universität Wien kam. Seit 2013 forscht sie im Rahmen des Elise-Richter-Programms an der heterogenen Kristallisation.



Konkret will die Physikerin herausfinden, wie die Phasen vom flüssigen Stoff bis hin zur kristallinen Struktur im Detail ablaufen. Dazu nutzt sie den Computer: In Simulationen werden die Newton'schen Bewegungsgleichungen für viele kleinen Kugeln, die sich bei langen Distanzen anziehen, bei kurzen jedoch abstoßen, gelöst. Die Geschwindigkeiten der Teilchen definieren die Temperatur des Gesamtsystems – die Verringerung dieser Geschwindigkeiten führt zum Absenken der Temperatur, das zur Bildung des Kristalls führt. Um die simulierten Phasenübergänge sozusagen "live" beobachten zu können, hat Swetlana Jungblut ein spezielles Computerprogramm entwickelt.

Eile mit Weile


Ein weiterer Vorteil der Forschung am Computer liegt darin, dass der Kristallisationsvorgang in der Natur relativ lange dauert. Die unterkühlte Flüssigkeit ist metastabil – eine schwache Form der Stabilität – und es kann einige Zeit verstreichen, bis das System eine freie Energiebarriere überspringt und schließlich der eigentliche Kristallisationsprozess beginnt. "Mithilfe fortgeschrittener Computersimulationsmethoden können wir diese Wartezeiten umgehen und uns auf den eigentlichen Prozess konzentrieren. Auch können wir quasi auf die 'Pausetaste' drücken und die einzelnen Zustände des Kristallisationsübergangs im Detail betrachten."

Kleine Änderung – große Wirkung

"Eine der großen Herausforderungen in diesem Projekt besteht darin, die Kristallisation kontrolliert ablaufen zu lassen", sagt Swetlana Jungblut. Dafür arbeitet sie mit sogenannten Impfkristallen – kleine Kristalle, die einer Flüssigkeit zugeführt werden, um darin größere Kristalle zu züchten. Die Struktur der Impfkristalle definiert das Kristallisationsszenario. Um diese Vorgänge zu simulieren braucht es sehr viel Rechenzeit. Dazu nutzt die Forscherin den Vienna Scientific Cluster, den gemeinsamen Supercomputer der Universität Wien, TU-Wien und BOKU-Wien.


Der Vienna Scientific Cluster ist ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Wien, der Technischen Universität Wien, der Universität für Bodenkultur Wien, der Technischen Universität Graz und der Universität Innsbruck. Dabei handelt es sich um einen High Performance Computing (HPC) Cluster für ausgewählte wissenschaftliche Projekte. Die zweite Ausbaustufe des VSC erreichte bei ihrer Einführung auf der Liste der 500 weltweit schnellsten Hochleistungscomputer Platz 56. Bei der Konstruktion wurde auch großer Wert auf Green IT gelegt.



Die kleinen Impfkristalle haben eine enorme Auswirkung: "Wenn wir die Größe oder die Struktur dieser Körner nur leicht verändern, erzielen wir massiv voneinander abweichende Resultate", erklärt die Physikerin.

Erste Ergebnisse

Die eigentliche Idee zur Forschungsarbeit von Swetlana Jungblut basiert auf einer Theorie, dass Systeme, die Glas bilden können, sich von anderen Kristallen dadurch unterscheiden, dass sie lokal fünffache Symmetrien aufweisen.

Jungblut untersucht nun, ob es einen Unterschied im Kristallisationsvorgang und der Wachstumsgeschwindigkeit eines glasbildenden und eines einfachen Systems gibt. Dazu arbeitet sie die Merkmale eines glasbildenden in das einfache System ein, z. B. durch das Einfügen eines Impfkristalls mit fünffacher Symmetrie, und untersucht, ob und wie sich der Mechanismus des Übergangs ändert. So haben erste Erkenntnisse bereits gezeigt, dass bei glasbildenden Keimen die Kristallisation überall im Gefäß passiert, nur nicht in der Nähe des Impfkristalls. Bei der Initiierung eines "einfachen" Kristalls findet die Kristallisation hingegen am Kristall selbst statt – es tritt also genau das Gegenteil ein.

"International ist eine Kooperation mit ExperimentalphysikerInnen der Universität Oxford geplant", so die Elise-Richter-Stipendiatin: "Die Ergebnisse werden nämlich für eine recht große Bandbreite an Systemen anwendbar sein." (sb)

Das FWF-Projekt "Computersimulationen von der heterogenen Kristallisation" läuft im Rahmen des Elise-Richter-Programms von Juli 2013 bis Juni 2017 unter der Leitung von Dipl.-Phys. Dr. Swetlana Jungblut von der Gruppe Computational Physics von der Fakultät für Physik der Universität Wien.