Das verborgene Wissen der Osmanen

Wie haben TürkInnen im 16. Jahrhundert ihre Haare gefärbt, und welche Hausmittel galten als fiebersenkend oder potenzstärkend? Anhand der "mecmu'as" – bisher unerschlossene private Sammlungen – untersucht die Turkologin Gisela Procházka-Eisl, was die "alten Osmanen" im Alltag beschäftigt hat.

Medresen sind "Orte des Lernens". Das Wissen, das in diesen osmanischen Schulen gelehrt und kultiviert wurde, wird bereits intensiv erforscht. Abseits davon gibt es unzählige Quellen aus der osmanischen Alltagskultur, die noch nicht erschlossen sind. Schuld ist die Sprache: Das Osmanische macht die Quellen für viele unzugänglich – Osmanisch bedeutet in diesem Fall: Türkisch in arabischer Schrift. Erst 1928 wurde die arabische Schrift von der lateinischen abgelöst. "Da die meisten TürkInnen heute die arabische Schrift nicht mehr lesen können, ist es wichtig, dass diese Quellen übersetzt und ediert werden", erklärt Gisela Procházka-Eisl vom Institut für Orientalistik die Hintergründe ihres kürzlich gestarteten FWF-Projekts.

Was im Alltag von Nutzen war

Neben einer populären osmanischen Enzyklopädie aus dem 16. Jahrhundert, der "Neta'ic ül-fünun" des Gelehrten und Dichters Nev'i, untersucht die Turkologin zusammen mit Projektpartner Ernst Petritsch vom Österreichischen Staatsarchiv und zwei Projektmitarbeiterinnen die "mecmu'as": Dabei handelt es sich um Sammelschriften, die von einer oder mehreren – meist unbekannten – Personen zusammengetragen wurden. Sie beinhalten alles, was für das tägliche Leben der Menschen vom 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert wichtig und nützlich war. "Zu dieser Zeit war es noch nicht selbstverständlich, auf eine hauseigene Bibliothek zurückgreifen zu können. In den meisten osmanischen Haushalten war der Koran das einzige Buch", so Procházka-Eisl.

In den mecmu'as wurde daher alles zusammengetragen, was man im Alltag brauchte: Von religiösen Ritualen über Gedichte, Kalender, diverse (medizinische) Hausmittel – z.B. zur Vorbeugung oder Färbung weißer Haare – bis hin zu rechtlichen oder finanziellen Angelegenheiten und persönlichen Briefen.

Zwischen Religion und Aberglauben

Am Beispiel Religion illustriert die Forscherin, wie sich das populäre Wissen vom Schulwissen unterscheidet: "In den Schriften haben wir nur wenige Koransuren gefunden. Stattdessen angewandte oder praktische Dinge mit vielen Berührungspunkten zum Aberglauben: Wir erfahren, wie man sich an einem Freitag verhält, sich am besten rasiert oder welche Gebete beispielsweise gegen Ameisen helfen sollen." Andere Textpassagen enthalten nützliche medizinische Tipps: So fand das ForscherInnenteam unter anderem Rezepte für eine Fiebertherapie mit Ochsenurin oder Pasten, die die Manneskraft stärken – wie eine Mischung aus Schwarzkümmel, Zimt, Zucker, Honig, Galgant und anderen Ingredienzien.

Da Papier kostbar war, wurde auf einem Blatt so viel wie möglich untergebracht: Zahlenkolonnen, Gedichte, Rezepte und dazwischen wieder Zahlen – und das alles oft in einer schwer lesbaren, flüchtig hingeworfenen Handschrift. Man muss nicht Arabisch können, um zu sehen, dass die Entzifferung dieser Handschriften eine ziemliche Herausforderung darstellt. "Doch es ist interessant, wie schnell sich unser Gehirn an solche Krakelschriften gewöhnt", stellt Procházka-Eisl fest.

Türkisch in Arabischer Schrift

In der Türkei konnte zu jener Zeit nur eine kleine Anzahl an Leuten schreiben. Noch weniger waren es, die Arabisch oder Persisch beherrschten: "Damit wir die Kultur einer breiteren Schicht erfassen, konzentrieren wir uns auf die mecmu'as, die – neben einigen persischen Gedichten oder religiösen Abhandlungen auf Arabisch – zum Großteil osmanisch sind", betont Prochazka-Eisl.

Eine Wiener Spezialität

Ziel des Projekts ist die Übersetzung und Edition der mecmu'as sowie der Enzyklopädie – in zwei Bänden – und die Herausgabe eines dritten Bandes mit den kulturgeschichtlichen Erkenntnissen aus dem Forschungsprojekt. Zusätzlich wird das Material unter Zuhilfenahme moderner sprachverarbeitungstechnischer Methoden erschlossen. Mit der Analyse dieser großen Textmenge – die mecmu'as und die Enzyklopädie bringen es insgesamt auf etwa 800 Seiten – will das Projektteam die Kultur des "Allgemeinwissens" gebildeter Osmanen erforschen. "Da die Sammelschriften alle aus österreichischen Beständen – der Nationalbibliothek und dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv – stammen, tragen wir damit auch zur Erschließung österreichischer Quellen bei", ergänzt die Orientalistin. (ps)

Das FWF-Projekt "Frühneuzeitliche osmanische Wissenskultur" läuft von 1. Juli 2011 bis 30. Juni 2014. Die Projektleiterin ist Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Gisela Prochazka-Eisl vom Institut für Orientalistik. Sie arbeitet in Kooperation mit Dr. Ernst Petritsch vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv und den Projektmitarbeiterinnen Dr. Marlene Kurz und Mag. Hülya Hancı.