Auf Spurensuche in Japan

Wiener JapanologInnen stellten 1968 mit ihrer Feldforschung im Aso-Gebiet die traditionelle Japanforschung auf den Kopf. Rund 50 Jahre später tritt ein Uni Wien-Team in die Fußstapfen ihrer revolutionären Vorgänger und untersucht den gesellschaftlichen Wandel in der japanischen Bergregion.

Mit Kameras und Aufnahmegeräten im Gepäck begaben sich ForscherInnen um Alexander Slawik, Josef Kreiner und Erich Pauer 1968 auf Japanexpedition. Von Wien mit dem Zug nach Moskau, ein Flug nach Irkutsk, auf Schienen der chinesischen Grenze entlang und weiter mit dem Schiff – nach sechs Reisetagen erreichten sie endlich Japan. Nach einer weiteren Woche türmte sich schließlich das vulkanische Gebirgsmassiv der Aso-Region auf der Insel Kyūshū vor ihnen auf. Hier wollten sie das ländliche Japan erforschen. Sie klopften bei über 70 Haushalten an, führten Interviews, machten Fotos – und revolutionierten mit ihrem anthropologischen Zugang die europäische Japanforschung.   

"Bis zu dieser Expedition war die Japanologie historisch-philologisch geprägt", erinnert sich Ralph Lützeler vom Institut für Ostasienwissenschaften zurück. Mit dem "Aso-Projekt" in den 60er-Jahren wurde die Wiener Schule der Japanforschung begründet: "Erstmals waren sozialwissenschaftliche und modern-kulturwissenschaftliche Fragestellungen mit Gegenwartsbezug relevant", stimmt Wolfram Manzenreiter zu. In einem Workshop mit ZeitzeugInnen und TeilnehmerInnen nahmen sich die beiden Japanologen das vergangene Forschungsprojekt noch einmal vor. Daraus reifte der Entschluss, die Region wieder zu beforschen, wenn auch mit einer neuen Schwerpunktsetzung: Lebenszufriedenheit in peripheren Regionen.

Neuauflage des Aso-Projekts

Hierzu reisten Wolfram Manzenreiter und Barbara Holthus vom Institut für Japanologie im Sommer 2015 nach Kumamoto, um erste Kontakte mit Personen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und der Lokalbevölkerung zu knüpfen. Es folgten weitere Besuche und Gegenbesuche, um Vertrauen aufzubauen. Eine wichtige Rolle spielten dafür auch die Unterstützungsaktionen der Wiener Japanologie für die Aso-Region, die im Frühjahr 2016 ein schweres Erdbeben erschütterte.

Die Feldforschung in Aso begann im September 2016 durch ein sechsköpfiges Team der Universität Wien. Zwei Wochen gingen die JapanologInnen im ehemaligen Dorf Nishi-Teno auf den Spuren der Vorgänger ins Feld, um einen ersten Einblick in den gesellschaftlichen Wandel der Region seit 1968 zu erhalten.

Die ForscherInnen 2016 vor dem Rathaus der Stadt Aso (links), ihre Vorgänger 1968 vor dem damaligen Rathausgebäude (rechts). (Foto: Institut für Japanologie)

"Dank der guten Kontakte konnten wir im Top-Down-Approach über verschiedene Ebenen hinweg ein Netzwerk von Leuten aufbauen. Wir wurden immer wieder 'weitergereicht' und konnten einfach das Aufnahmegerät einschalten", berichtet Manzenreiter über den Forschungsaufenthalt.

Als "Eisbrecher" dienten ihnen die vielen Fotos, die Alexander Slawik, Josef Kreiner und Erich Pauer 1968 aufgenommen und nun dem Institut für Japanologie übergeben haben. "Durch die Bilder wurden die Erinnerungen der BewohnerInnen geweckt und das Erzählen fiel ihnen leichter", so Lützeler. 3.000 dieser historischen Fotografien wurden vom Forschungsteam bislang digitalisiert und beschlagwortet.

Auf einem Symposium im April 2015 diskutierten ZeitzeugInnen und ProjektmitarbeiterInnen der Nachfolgegenerationen über die Bedeutung der Aso-Forschung für die deutschsprachige Japanologie damals und heute; die Ergebnisse gibt es im Sammelband "Aso: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Wiener Forschungsprojekts zum ländlichen Japan" zum Nachlesen. 

Eine Region im Wandel

Zeit für ein Zwischenfazit: Wie hat sich die Region gewandelt? Das vulkanische Bergmassiv der Aso-Region sorgt für einen relativ geschlossenen Untersuchungsraum im Talgebiet. Vor einigen Jahrzehnten war die landwirtschaftlich geprägte Region noch eine autonome Einheit: Das gesamte Produktions- und Konsumleben hat an einem Ort stattgefunden. In den 60er-Jahren setzte die ländliche Arbeitsmigration ein und insbesondere junge Menschen verließen die Region. Institutionen der dörflichen Selbstorganisation passten sich an den demographischen Wandel an: Die Altersgrenzen für die Mitarbeit in den Altersklassengruppen wurden flexibler gestaltet, Verantwortlichkeiten umverteilt oder auf die Verwaltung ausgelagert und es wurde die Hilfe von NGOs in Anspruch genommen.

Zufriedenheit ist subjektiv

Trotz offenkundiger struktureller Probleme sind die BewohnerInnen der Region zufrieden. Die Präfekturverwaltung von Kumamoto entwickelte ein Messinstrument zur Bestimmung subjektiver Zufriedenheit, den Aggregate Kumamoto Happiness-Index – seit Beginn der Erhebung schneidet die Aso-Region besonders gut ab. "Die Ergebnisse zeigen, dass es zu eindimensional wäre, den ländlichen Raum nur anhand von Daten sichtbarer Strukturelemente zu beurteilen", leitet Ralph Lützeler ab, der regionale Lebensbedingungen in der Aso-Region erforscht.

"Aus der Sekundäranalyse erschließen sich mit Lokalstolz und Verbundenheitsgefühl zwei gewichtige Einflussfaktoren auf das Wohlbefinden der Aso-Region", erklärt Wolfram Manzenreiter, der die Rohdaten vom Gouverneur der Präfektur zur Verfügung gestellt bekommen hat. "Wir wissen aber zu wenig über Faktoren, die der Fragebogen nicht erhoben hat." 

Forschung rund um die mittlerweile abgebrochene Tokaku-Herberge, 1968 und 2016. (Foto: Institut für Japanologie)

Forschung im Team

Mit rund zehn beteiligten WissenschafterInnen in Wien und Japan steht die gemeinschaftliche Forschung im Vordergrund der Projekt-Neuauflage. "Mit meiner Berufung 2013 eröffneten sich neue Gestaltungsoptionen und ich wollte Dinge anders machen. In 'Aso 2.0' wird zusammengearbeitet, fächer- und länderübergreifend", erläutert Projektleiter Wolfram Manzenreiter. Schnelle Feedbackschleifen, beschleunigte Arbeitsprozesse und die praxisnahe Einbindung von Studierenden – für den Japanologen liegen die Vorteile der Teamforschung auf der Hand.

Auf Tuchfühlung mit der lokalen Bevölkerung: Das ForscherInnenteam 2016 beim Dorfvorsteher in Nishiteno und Wiener Japanologen 1968 in einer lockeren Gesprächsrunde mit Aso-BewohnerInnen (Foto: Institut für Japanologie)

Viele KöchInnen machen den Brei

Die Wiener ForscherInnen untersuchen unterschiedliche Aspekte der Aso-Region, sind aber stets vernetzt: Antonia Miserka ist derzeit an der Universität Kumamoto und erforscht das Phänomen der I-Turn-Migration: Menschen ziehen neu in eine ländliche Region, zu der sie keine familiäre oder historische Bindung haben. Auch Hannah Raab arbeitet vor Ort und untersucht den Themenbereich Altenpflege. Der Ethnologe Johannes Harumi Wilhelm wirft im Projekt die Frage nach Organisationsstrukturen in dörflichen Gemeinden auf, Signy Spletzer analysiert das Branding-Konzept der Aso-Region und Barbara Holthus, die aus der Glücksforschung kommt, beschäftigt sich mit Fragen des familiären Wohlbefindens in der Region. Das Aso-Projekt ist wieder aktuell. (hm)

In dem Projekt "Aso 2.0: Regionales Wohlbefinden in Japan" unter der Leitung von Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfram Manzenreiter forschen u.a. ao. Univ.-Prof. Dr. Ingrid Getreuer-Kargl, Dr. Dr. Barbara Holthus, Dipl.-Geogr. Dr. Ralph Lützeler, Antonia Miserka, Hannah Raab, Sebastina Polak-Rottmann, M.A., Florian Purkarthofer, M.A., Signy Spletzer, Dr. Johannes Wilhelm, M.A.. Das Projekt ist am Institut für Ostasienwissenschaften der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt.