Arthur Schnitzler – Zwischen Folklore und Skandal

Arthur Schnitzler

Sexualität, Antisemitismus, politische Intrigen. Themen, die der jüdische Autor Arthur Schnitzler immer wieder aufgegriffen hat – kontrovers für das Wien um 1900. Konstanze Fliedl vom Institut für Germanistik arbeitet an Schnitzlers Nachlass und macht so auch bisher Unveröffentlichtes sichtbar.

"Nachm. 'Ltn. Gustl' vollendet, in der Empfindung, dass es ein Meisterwerk", schrieb Schnitzler am 19. Juli 1900 in sein Tagebuch. Über 100 Jahre später greift Konstanze Fliedl vom Institut für Germanistik auf Einträge wie diese zurück, um Schnitzlers "Lieutenant Gustl" neu zu publizieren. In dem mittlerweile zweiten FWF-Projekt "Arthur Schnitzler – Kritische Edition (Frühwerk) II" geben Fliedl und ihr Team Schnitzlers Werke neu heraus. Im Mittelpunkt steht der Schreibprozess, von der ersten Idee bis zur letzten von Schnitzler bearbeiteten Version eines Textes.

Jeder Text wird in all seinen Entwürfen und Versionen entziffert, transkribiert und gemeinsam mit der Druckversion veröffentlicht. Das ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil "die erhältlichen Leseausgaben nicht zuverlässig sind", wie Fliedl das Problem beschreibt. Bei der Umstellung der alten Ausgaben auf eine modernere Schriftart wurden Wörter sinnverfälschend umgeschrieben: aus einem "Ästhet" wurde etwa ein "Athlet", aus "rücksichtslos" wurde "rücksichtsvoll". Die historisch-kritische Ausgabe macht diese Fehler rückgängig.

Arthur Schnitzler (1862-1931) war ein Wiener Autor und Arzt, der mit seinen Werken immer wieder für Skandale sorgte. Nach der Uraufführung des Theaterstücks "Reigen" 1920 wurden Theaterdirektoren und SchauspielerInnen wegen "Erregung öffentlichen Ärgernisses" angeklagt (Reigen-Prozess). Er veröffentlichte Theaterstücke, aber auch Novellen und Erzählungen, die bis heute Einblicke in die Wiener Gesellschaft um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert geben. (Foto: wikimedia/public domain)

Zwischen Folklore und Politik

"Schnitzler wurde nach 1945 oft als ein folkloristischer Autor rezipiert; seine Werke waren aber sehr politisch. Nur ein einziger Roman stand nicht auf der Schwarzen Liste der Nazis", gibt Fliedl zu bedenken. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei Schnitzler dann nachträglich entpolitisiert worden. "Man hat ihn hauptsächlich als Darsteller des Wienerischen rezipiert, dabei analysierte er die zeitgenössische Gesellschaft sehr kritisch", stellt Fliedl klar.

Sichtbar wird das unter anderem im Drama "Professor Bernhardi", das die Wissenschafterin als ihr persönliches Lieblingswerk nennt. "Mechanismen wie politische Intrige, Kampagnen oder Mobbing werden darin sehr transparent dargestellt", beschreibt Fliedl: "In diesem Text kommen für mich sowohl der formale und ästhetische als auch der politische Anspruch überein."

Schnitzler steht nicht zufällig im Fokus von Konstanze Fliedls Forschung. Bereits als Studentin arbeitete sie ein Jahr lang an der Herausgabe der Schnitzler-Tagebücher mit, die insgesamt fast 20 Jahre gedauert hat. "Nach meiner Dissertation war ich ein Jahr in Cambridge und hatte Gelegenheit, den umfassenden Nachlass zu sehen." Daraus entstand ihr erstes FWF-Projekt, in dem sich die Germanistin von 2010-2016 ebenfalls mit Schnitzlers Frühwerk beschäftigte. (Foto: Konstanze Fliedl)

Verstreuter Nachlass

Dass Fliedl hier Pionierarbeit leistet und erstmals eine kritische Edition anfertigt, hat mehrere Gründe. Schnitzler schrieb viel – der Werknachlass umfasst etwa 40.000 Seiten – und sehr unleserlich. "Es dauert einige Monate, bis man seine Schrift wirklich gut lesen kann, und selbst dann gibt es immer noch Zweifelsfälle. Wenn man nicht wirklich geübt ist und viele Texte kennt und vergleichen kann, passieren Fehler", erzählt Fliedl.

Schnitzlers Nachlass ist aber nicht nur schwierig zu entziffern, sondern auch in ganz Europa verstreut. Der Hauptteil findet sich an der Universitätsbibliothek in Cambridge. Dass es diesen Nachlass überhaupt noch gibt, ist einem britischen Studenten zu verdanken, der 1938 das Gartenzimmer im Haus seiner Familie im 18. Wiener Gemeindebezirk von der britischen Botschaft versiegeln lies und so Schnitzlers Nachlass vor der Gestapo rettete. Eric A. Blackall – besagter Student – war es dann auch, der die Dokumente mit Zustimmung der Familie Schnitzler nach Cambridge bringen ließ, wo der Werknachlass auch heute noch zu finden ist.

Recherche in Cambridge

"Schnitzlers Sohn Heinrich hat dagegen den sogenannten Privatnachlass, d.h. die Briefe und Tagebücher, wieder mitgenommen und letztlich dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach überlassen", erzählt Fliedl. Einzelne Manuskripte finden sich aber auch in Wien, Genf und Jerusalem. "Briefe könnten auch noch viele in Nachlässen von EmigrantInnen auftauchen", so die Wissenschafterin.

Im Online-Katalog des Deutschen Literaturarchivs beginnt auch die Recherche für das Projekt. Auf diese Weise verschaffen sich die WissenschafterInnen einen Überblick über den gesamten Nachlassbestand. Zum Einsehen der Handschriften muss man aber den Manuskriptraum der Universitätsbibliothek in Cambridge benützen. "Vor Ort erhält man ein Konvolut, ein Bündel von Schriftstücken, das noch so eingepackt ist, wie Schnitzler es einst in Hüllen gelegt und mit Bändchen verschnürt hat", erzählt Fliedl.

Im Rahmen des ersten Projekts sind bereits acht Werke Schnitzlers als kritisch-historische Ausgabe erschienen. Diese Ausgabe enthält neben den Faksimiles aller erhaltenen Handschriften des jeweiligen Werks in Originalgröße und den dazugehörigen Transkriptionen auch die Druckversion und alle Varianten der Ausgaben, die noch zu Lebzeiten Schnitzlers erschienen sind. Ein Kommentar ergänzt den Text um kulturgeschichtliche Spezifika und erläutert die Entstehungsgeschichte des betreffenden Werks. (Foto: Konstanze Fliedl)

Zukunftspotenzial

Geht es nach Fliedl, gibt es in Schnitzlers Nachlass noch eine Menge aufzuarbeiten – vieles wurde noch nie veröffentlicht. Für die Zukunft wünscht sie sich mehr geförderte Formate, die eine längere Projektlaufzeit ermöglichen. "Momentan habe ich das Gefühl, ich schreibe mehr Antragsprosa als wissenschaftliche Texte", lacht die Wissenschafterin. "Allerdings", fügt sie hinzu, "die Arbeit an den Handschriften und der Edition mit meinem Team macht mir nach wie vor großen Spaß." Das zeigt sich auch an einem neuerlichen Projektantrag, den Fliedl Anfang des Jahres gestellt hat. Das Entziffern ist also noch lange nicht zu Ende. (pp)

Das FWF-Projekt "Arthur Schnitzler – Kritische Edition (Frühwerk) II" wird unter der Leitung von Univ.-Prof. Mag. Dr. Konstanze Fliedl vom Institut für Germanistik,  ihrem Team Mag. Anna Lindner, Mag. Isabella Schwentner, Mag. Dr. Marina Rauchenbacher und unter Mitarbeit von Mag. Ingo Börner, von 1.9.2014 bis 31.1.2018 durchgeführt.