Angewandte Geologie im Wiener Untergrund

Der Lainzer Tunnel bildet einen Teil der geplanten neuen Verbindungsstrecke zwischen Südbahn und Westbahn und wird seit 2007 gebaut. Im Rahmen eines von OMV und ÖBB geförderten Projekts bearbeiten Clemens Pfersmann und Projektleiter Michael Wagreich vom Department für Geodynamik und Sedimentologie die Gesteine des Tunnels. Die einmalige Gelegenheit, den Untergrund von Wien zwischen Auhof und Lainz genau unter die geologische Lupe zu nehmen, brachte eine Reihe von überraschenden Erkenntnissen; erste Ergebnisse der Studie wurden bereits publiziert.

Durch die starke Verbauung ist der tiefere Untergrund von Wien nur schwer von der Oberfläche aus zu enträtseln. "Tunnelbauten wie etwa der Lainzer Tunnel bilden daher für ErdwissenschafterInnen eine einmalige Gelegenheit, in die geologische Unterwelt von Wien zu schauen", sagt Projektleiter Michael Wagreich.

Im südwestlichen Stadtgebiet von Wien treten Gesteine der Flyschzone ("Sandstein-Wienerwald", Alter der Gesteine etwa 110 bis 50 Mio. Jahre) und der Klippenzone ("St. Veiter Klippenzone", benannt nach Ober St. Veit, Gesteinsalter von etwa 215 bis 130 Mio. Jahre) auf. Nur an wenigen Stellen, vor allem in Lainzer Tiergarten, kommen sie heute noch an die Oberfläche. "Bei den Bauarbeiten am Lainzer Tunnel wurden diese Gesteine in einem kontinuierlichen Band von 3,4 km angetroffen - wir haben die Chance genützt, sie im Rahmen unseres Forschungsprojekts zu beproben", so Wagreich.

Abenteuerliche Probennahme im Tunnel

Der Tunnelvortrieb erfolgte traditionell bergmännisch mit Bagger, Fräse und an die Gebirgsverhältnisse angepasste Lockerungssprengungen. Dies ermöglichte eine Probennahme von Gesteinen vor Ort: "Die hatte allerdings räumlich und zeitlich nach den Vorgaben des Tunnelvortriebs und der raschen Verschalung mit Beton zu erfolgen", erklärt der Geologe: "Die Entnahme musste also sehr gezielt und nach Absprache mit den Geologen im Tunnel passieren - d.h. wir standen sozusagen auf Abruf bereit."

"Manchmal war die Probennahme richtig abenteuerlich", ergänzt Clemens Pfersmann: "Etwa, wenn wir zwischen Vortriebsmaschine, Bagger und heranrückenden LKWs innerhalb weniger Minuten und auf engstem Raum an der Vortriebsstelle Proben einmessen und sichern mussten." Auf diese Weise sammelten die Forscher mehr als 248 Gesteinsproben, v.a. Tone, Kalke und Sandsteine, die in der Folge mineralogisch und chemisch untersucht und klassifiziert werden.

Überraschende erste Ergebnisse

Die bisher unter Fachleuten gängige Vorstellung zur Beziehung der Flyschzone des Wienerwalds zur St. Veiter Klippenzone sagte einen direkten sedimentären Kontakt der beiden Einheiten voraus: Damit wurde die Klippenzone als Teil der ursprünglichen Unterlage der Flyschzone identifiziert. Die erste Auswertung der Proben aus dem Lainzer Tunnel weist aber im Gegenteil auf die Existenz zweier ursprünglich unabhängiger Einheiten hin, die erst durch spätere Gebirgsbildungsprozesse der Alpen in die heutige unmittelbare Naheposition gebracht und tektonisch vermischt wurden.

Vergleichsuntersuchungen in den Karpaten der Slowakei bestätigen hingegen eine andere Theorie, nämlich die Vorstellung, dass die St. Veiter Klippenzone eine direkte Fortsetzung der slowakischen Klippenzone darstellt. Das Verbindungsstück zwischen den Karpaten und Wien ist im Untergrund des Wiener Beckens begraben durch eine mehrere tausend Meter dicke Schicht von jüngeren Sedimenten des Wiener Beckens. "Die ersten Untersuchungen der Gesteine aus dem Lainzer Tunnel zeigen ganz klar die Ähnlichkeiten zu Gesteinsabfolgen in der Slowakei", sagt Wagreich.

Angewandte Grundlagenforschung


Die Ergebnisse der Untersuchung im Lainzer Tunnel sind nicht nur für die Entstehung der Alpen von Bedeutung, sondern finden ihre Anwendung auch in der Suche der OMV nach Erdöl und Erdgas im Wiener Becken. Die jetzt möglichen direkten Vergleiche mit den vorher weitgehend unbekannten Tunnelgesteinen liefern wichtige Korrelationen und erlauben, unbekannte Gesteine in den Bohrungen zu identifizieren und zuzuordnen - und damit öl- oder gasführende Strukturen im tiefen Untergrund des Wiener Beckens zu finden.

"Die Untersuchung der Gesteine des Lainzer Tunnels im Rahmen meiner laufenden Dissertation wird im kommenden Jahr durch eine Förderung des Hochschuljubiläumsfonds der Stadt Wien weiter ermöglicht", freut sich Pfersmann. Er erwartet sich neue Erkenntnisse besonders im Hinblick auf die Beziehung dieser Zonen zu den Kalkalpen; erste Forschungsergebnisse konnten bereits auf Tagungen und in Fachzeitschriften publiziert werden. (red)

Das Projekt "OMV-Klippen Inventory of the St. Veit Klippenzone Lainzer Tunnel Project" unter der Leitung von Ao. Univ.-Prof. Dr. Michael Wagreich vom Department für Geodynamik und Sedimentologie wird von OMV und ÖBB gefördert. Projektmitarbeiter ist Mag. Clemens Pfersmann. Kooperationen bestehen mit der Universität Bratislava und der Geologischen Bundesanstalt in Wien. Das Projekt startete im August 2008 und läuft bis Ende 2010.

Das Paper "Die Geologie des Westabschnittes des Lainzer Tunnels der Rhenodanubischen Flyschzone im Wienerwald (Österreich): Kahlenberg-Formation und Hütteldorf-Formation (Kreide)" (PDF) von Clemens Pfersmann und Michael Wagreich erschien im Journal of Alpine Geology.