Alles Samba! Ethnographische Perspektiven auf die WM 2014

Ein internationales Team unter Leitung von Alexandra Schwell von der Universität Wien untersucht den globalen Kontext der WM-Begegnungen. In ihrem Gastbeitrag berichtet sie gemeinsam mit Nina Szogs über den "Sehnsuchts- und Angstort" Brasilien.

Brasilien! Land des Sambas, der schönen Frauen, der Copacabana, des Karnevals, der unberührten Natur und der exotischen indigenen Stämme! Brasilien, Land der Kriminalität, Drogen und Favelas! Die stereotypen Narrative über Brasilien sind ambivalent: Brasilien ist zugleich Sehnsuchts- und Angstort.

Am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien läuft seit April 2012 der Wiener Ableger des internationalen Forschungsprojekts "Football Research in an Enlarged Europe" (FREE), das im 7. Rahmenprogramm der EU gefördert wird. FREE vereint ForscherInnen verschiedener sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen in acht Ländern und hat sich zur Aufgabe gemacht, Europas populärsten Sport unter die Lupe zu nehmen. Das FREE-Projekt konzentriert sich besonders auf die Frage, wie in der hochgradig emotional aufgeladenen Arena des Fußballs Fragen der Zugehörigkeit, der Abgrenzung und der transregionalen und transnationalen Identifikation verhandelt werden.

Wenn der Fußball Europa verlässt …

Bislang standen die Asymmetrien von Ost und West sowie die Aushandlung von Europäisch-Sein und Zugehörigkeit in Bezug auf das Verhältnis zur Türkei im Vordergrund. Mit der WM in Brasilien erweitert das FREE-Projekt den Fokus: Nun zielen wir darauf ab, die Perspektive auf die auch innerhalb Europas immer stärker hervortretende Nord-Süd-Asymmetrie zu lenken – allerdings mit Blick auf die globalen "Mental Maps" aus einer europäischen Perspektive. In neun Ländern führen die ProjektpartnerInnen unter Leitung der Wiener Europäischen Ethnologie teilnehmende Beobachtungen und qualitative Interviews im Kontext ausgewählter WM-Begegnungen durch. Wir wollen herausfinden, wie eine imaginierte europäische Fußballidentität entsteht, und wie sie praktiziert und inszeniert wird, wenn der Fußball den Kontinent verlässt.

Europäische Hegemonie

Auch wenn die Welt kleiner geworden ist und die Mobilität zugenommen hat, beziehen die meisten EuropäerInnen ihr Wissen über Brasilien nicht aus erster Hand, sondern aus tradierten Erzählungen und vor allem aus medial vermittelten Bildern. Das FREE-Projekt interessiert sich dafür, wie Vorstellungen vom "europäischen Eigenen" durch den Blick auf das "brasilianische Andere" konstruiert und praktiziert werden. Analog zu Edward Saids Orientalismus-Konzept gehen wir davon aus, dass das Wissen über Brasilien (und andere Gesellschaften des so genannten "Globalen Südens") weniger einem gleichberechtigen Dialog mit den dortigen Akteuren entspringt, sondern dass es sich um ein Wissen handelt, das vor dem Hintergrund (post-)kolonialer Machtverhältnisse und europäischer Hegemonie und Dominanz entstanden ist und weiter fortgeschrieben wird, und das in erster Linie dazu dient, EuropäerInnen ihrer Zivilisiertheit zu versichern.

Sexismus in der Darstellung von BrasilianerInnen

Entsprechend verraten stereotype und exotisierende Vorstellungen mehr über "uns" als über "die Anderen". Hier setzt unsere Forschung an: Der Vergleich von (mindestens) neun unterschiedlichen Sichtweisen auf Brasilien erlaubt Rückschlüsse darauf, wie sich die jeweiligen Akteure als EuropäerInnen und Mitglieder ihrer jeweiligen Diskursgemeinschaften auf der globalen "Mental Map" positionieren. Zwei Bereiche sind aus unserer Sicht hier von hoher Relevanz: Die Rezeption der Proteste der brasilianischen Bevölkerung sowie der augenfällige Sexismus in der Darstellung von BrasilianerInnen.

Schöne und fußballbegeisterte Menschen

Bereits weit vor den Anpfiff der WM bestimmten die Proteste in Brasilien die Medien. Seit Beginn der WM sind sie allerdings signifikant in den Hintergrund gerückt. Die Berichterstattung vor Ort wählt entweder fröhliche Bilder glücklicher und enthusiastischer BewohnerInnen der Austragungsorte sowie schöner und fußballbegeisterter Menschen an der Copacabana, oder aber die brasilianische Realität wird vom sterilen Setting der hiesigen Medien dermaßen in den Hintergrund gedrängt, dass der Eindruck entsteht, die Aufnahmen hätten auch vor der Fototapete eines deutschen Aufnahmestudios stattfinden können.

Dass die Kameras der FIFA nur ausgewählte, möglichst unpolitische Bilder zeigen, die den Eindruck der Fußball-Fiesta nicht stören, wird in den Kurznachrichten der Seitenspalten erwähnt, bleibt jedoch eine Kuriosität am Rande. Dabei gäbe es genug, worüber die Medien berichten könnten. So erzählt uns Sara Fremberg, Journalistin und Autorin des Blogs "Memória e verdade" in Recife, von verstärkten Einschüchterungsversuchen der Polizei gegenüber den Demonstrierenden in brasilianischen Städten und der Rolle der privatisierten, konservativen Medien bei der Unterdrückung der Protestbewegungen. "Friedliche Demonstranten werden zu Vandalen gemacht", so Fremberg, "während mehrstündige Dokumentationen über Frisur und Ernährung Neymars informieren."

Arm-aber-glücklich-Folklore?

Die Frage, die sich das FREE-Projekt stellt, ist entsprechend: Welche Bedeutung haben die Proteste in Brasilien für europäische Fans und ZuschauerInnen? Werden sie als Teil der orientalisierenden Betrachtung als Arm-aber-glücklich-Folklore zur Kenntnis genommen? Oder lässt der Protest gegen soziale Ungleichheiten und das korrupte System der FIFA vielmehr Gemeinsamkeiten hervortreten, die uns zeigen, dass "Wir" auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität global von ähnlichen Problemen betroffen sind und deshalb Solidarität vonnöten ist?

Gleichzeitig ist der orientalisierende Blick bei der Darstellung der brasilianischen Bevölkerung außerordentlich gegendert. Eines der augenfälligsten Beispiele findet sich im WM-Studio des ORF. Zur Untermalung der jeweiligen Spielbegegnungen bedienten sich die Programmverantwortlichen folkloristischer Darstellungen: So tanzten etwa Samba-Tänzerinnen zwischen den Diskussionen gealterter Fußballstars als Pauseneinlage im Fernsehstudio. Nach Kritik des ORF-Publikumsrates, der diese Darstellungen als "scharf an der Grenze zum Sexismus" bewertete, gesellten sich zu der Frauengruppe dann auch männliche Capoeiristas. Nach Logik des ORF verhindert man also Sexismus, indem man zusätzlich Männer an Bord holt.

Gute Laune und leichte Kost

Was und wer auf welche Weise dargestellt wird – und wer nicht – und zu welchem Zweck, das sind die Fragen, bei denen das FREE-Projekt aus ethnographischer Sicht ansetzt. Schließlich sagt auch die halbnackte Sambatänzerin im ORF weniger über Brasilien aus als über die Phantasien der Programmverantwortlichen und das Diskursuniversum, innerhalb dessen sie agieren. In der Berichterstattung des WM-Studios gibt es keinen Raum für kritische Stimmen, die sich für eine gerechtere Verteilung der Gelder in Brasilien einsetzen.

Platz hingegen ist für Folklore, für westliche Imaginationen brasilianischer Frauen: tanzend, lächelnd, und wenig kontrovers. Gute Laune und leichte Kost – so wie es sich die großen internationalen Sportorganisationen zu Wettbewerbszeiten wünschen. Gleichzeitig ist aber auch der Diskurs über die Samba-Tänzerinnen und den Vorwurf des Sexismus aussagekräftig. Ähnlich wie bei Debatten um Verschleierung werden auch hier Frauen Teil eines Opferdiskurses, anstatt sie als handelnde Akteurinnen zu verstehen.

Univ.-Ass. Dr. Alexandra Schwell und Nina Szogs M.A. – beide am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien – forschen derzeit im groß angelegten EU-Projekt "FREE – Football Research in an Enlarged Europe". Die europaweite ethnographische Forschung läuft noch bis zum Ende der WM. Die Ergebnisse werden bei Palgrave Macmillan publiziert.