Intelligenz im Wandel
01. Juni 2015In zahlreichen Studien zeigt sich eine Zunahme beim Intelligenzquotienten der Bevölkerung. Die Psychologen Jakob Pietschnig und Martin Voracek von der Universität Wien erforschten mögliche Ursachen dafür und publizieren dazu aktuell in der Fachzeitschrift "Perspectives on Psychological Science".
Das Phänomen der IQ-Testleistungszuwächse der Allgemeinbevölkerung beschäftigt IntelligenzforscherInnen weltweit – seit der ersten systematischen Beschreibung. Die Ursachen und der Verlauf dieser mittlerweile als "Flynn-Effekt" bekannten Erscheinung sind unter WissenschafterInnen umstritten. Forscher der Universität Wien liefern nun erste Evidenz für globale IQ-Testleistungszuwächse in der Allgemeinbevölkerung. Anhand der Daten von nahezu vier Millionen Personen aus 31 Ländern beobachteten sie Zuwächse von rund drei IQ-Punkten weltweit pro Jahrzehnt über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren (1909-2013). Diese Zuwächse zeigten sich sowohl für schlussfolgerndes Denken als auch – obwohl in geringerem Ausmaß – für Wissen.
Der Flynn-Effekt unter der Lupe
Basierend auf diesem enormen Datensatz machten es eingehende Analysen möglich, die Ursachen für den Flynn-Effekt unter die Lupe zu nehmen: Insbesondere bessere Ernährung, Hygiene, medizinische Versorgung – alles Faktoren, die vor allem der frühkindlichen Entwicklung förderlich sind – sowie verbesserte schulische Ausbildung scheinen Ursachen für die IQ-Steigerungen zu sein.
Normierung von Intelligenztests
Intelligenztests werden auf einen Durchschnitt von 100 IQ-Punkten mit einer Standardabweichung von 15 normiert. Die Testergebnisse folgen einer Glockenkurve. Viele natürlich messbare Variable folgen solch einer glockenförmigen Kurve. Das heißt, dass im Durchschnitt zwei von drei Personen zwischen 85 und 115 Punkte und 96 von 100 Personen zwischen 70 und 130 IQ-Punkte erzielen. "Intelligenztests werden regelmäßig nachnormiert, um die Ergebnisse auf die durchschnittliche Soll-Leistung von 100 zu kalibrieren", erklären die Studienautoren Jakob Pietschnig und Martin Voracek von der Universität Wien.
Höhere Fähigkeitsspezialisierung und bessere Testbearbeitungsstrategien
In der neuen Meta-Analyse der Forscher zeigen sich IQ-Zuwächse von drei Punkten pro Dekade. Sie stellten sich daher die Frage: Bedeutet ein durchschnittliches Testergebnis von 100 IQ-Punkten heute das gleiche wie ein IQ von 130 Punkten vor hundert Jahren? Obwohl ein Zuwachs von 30 IQ-Punkten über ein Jahrhundert diese Vermutung nahelegt, ist diese Interpretation nicht gerechtfertigt: Nicht ein Zuwachs von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten, sondern steigende Leistungen in spezifischen Fähigkeiten erklären den Zuwachs bei IQ-Testleistungen.
"Eine Person mit einer durchschnittlichen IQ-Testleistung von 100 Punkten im frühen 20. Jahrhundert hatte mit großer Wahrscheinlichkeit andere kognitive Fähigkeiten als eine Person mit einer scheinbar 'äquivalenten' Leistung von 70 Punkten heutzutage", meinen Jakob Pietschnig und Martin Voracek. Die beobachteten IQ-Zuwächse scheinen nicht globale Zunahmen der kognitiven Leistungsfähigkeit darzustellen, sondern dürften Ausdruck von höherer Fähigkeitsspezialisierung und besseren Testbearbeitungsstrategien von TeilnehmerInnen sein.
Schwacher Zuwachs, starker Zuwachs
Interessanterweise scheinen sich die Zuwächse nicht linear zu verhalten. Zeiträume relativ starker Zuwächse wechseln mit Zeiträumen schwächerer Zuwächse: Während höherer umgebungsbedingter Belastungen, wie zum Beispiel in Europa zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, vermerken die Forscher schwächere Zuwächse.
Obwohl die Zuwächse momentan noch anhalten, zeigen die Studienergebnisse eine massive Abnahme der IQ-Steigerungen in den letzten Jahrzehnten. Dies könnte eine Folge von nachlassenden Effekten IQ-steigernder Faktoren, die ihren Höhepunkt erreicht haben könnten, sein und damit ein Vorzeichen für ein bevorstehendes Stagnieren von IQ-Zuwächsen. "Zukünftige Forschung wird zeigen, ob wir ein Ende und vielleicht sogar eine Umkehr des Flynn-Effekts beobachten werden", so Pietschnig und Voracek abschließend. (af)
Die Publikation "One century of global IQ gains: A formal meta-analysis of the Flynn effect" (Autoren: Pietschnig, J., & Voracek, M.) erschien kürzlich im Fachmagazin " Perspectives on Psychological Science".